Ausweitung der Kampfzone

Morgens halb zehn in Deutschland. Samstag, erwache und lache! Ich staune über das schöne Wetter und darüber, wieviele Menschen schon unterwegs sind. Die Luft summt; es gibt es also, das Samstagmorgengefühl (nicht zu verwechseln mit dem matschigen Sonntagmorgengefühl). Aus unerklärlichen Gründen (aber die braucht es ja schon lange nicht mehr) kommt einem die BVG wieder mal in die Quere, was dazu führt, dass ich zwanzig Minuten später mein Ziel erreiche als sorgfältig am Abend zuvor geplant. Zwanzig Minuten reichen aus, um die Filiale eines schwedischen Modekonzerns- rate mal welcher!- in ein Schlachtfeld zu verwandeln. N24 berichtet live vom Kriegsschauplatz; der ambitionierte Reporter riskiert viel, um ganz nah am Geschehen dran zu sein.

Eine einfache Rechung:
x= Fläche, auf der sich die Gesamtzahl der Produkte befindet, in qm
x hoch 15= Anzahl der weiblichen Wesen, welche auf der Fläche x zu lokalisieren sind
x hoch 15 plus y= Anzahl der männlichen Wesen auf der Fläche x, die die Beute ihrer Begleiterinnen verteidigen

Ich kann es kaum glauben und nehme mir ganz fest vor, diesen Zirkus nie wieder mitzumachen (ungern erinnere ich mich an einen Samstag Ende letzten Jahres, an dem ich frühmorgens um 9.45 Uhr mit einer Freundin zum Frühstück verabredet war; davor wollten wir nur ganz kurz einen Blick auf die Unterwäsche werfen, die einen seit Wochen überalll in der Stadt von Plakaten anschrie; nur um dann stundenlange Wartezeiten an der Umkliedekabine in Kauf zu nehmen und schließlich überglücklich ein völlig überteuertes Teil zur Kasse zu tragen).

Abgründe tun sich auf: Ich sehe Frauen mittleren Alters (Euphemismus!), vorwiegend osteuropäischer Herkunft, die sich, bewaffnet mit Handtaschen und einem furchteinflößenden Akzent, durch die Gänge schieben und bis aufs Blut ihre aufgetürmten Stapel mit Teilen der Kollektion verteidigen.
Eine Frau mit wasserstoffblondem Pagenschnitt baut sich vor dem Mädchen an der Umkleidekabine auf und nutzt ihren beträchtlichen Körperumfang, um sie qua ihrer dominanten Erscheinung dazu zu bringen, ihr einen der Kinderhaarreifen zu überlassen, die eine pflichtbewusste Kundin- ich!- zuvor dort abgegeben hat (keine Accesoires in den Kabinen).
Ich sehe Muttis, die zu klein geratene Strickpullöverchen begutachten, die die Brüste ihrer Töchter bedenklich stark in den Mittelpunkt rücken, um kurz darauf selbst vor dem Spiegel zu posieren, in einem Oversize Pullover, der nicht mal an den Models auf den unvermeidlichen Plakaten gut aussieht. Passend dazu die most-fashionable Kopfbedeckung mit plump- glitzernden Strasssteinen.

Das Verkäuferin rollt mit den Augen und erzählt mir, dass die ersten Fashionistas bereits seit sieben Uhr morgens in Position gegangen sind. Da bekommt das WortFashion Victim einen ganz neuen Beigschmack –
Nachdem ich mir tapfer drei Teile erkämpft habe, stelle ich fest, dass ich nur eines davon überzeugend finde. Seufzend bahne ich mir den Weg zu einer der fünf Kassen und sehe während ich warte, wie zehn, zwanzig Teile in den überdimensionalen Tüten meiner Konkurrentinnen verschwinden und die Kassiererin mit flottem Schwung die Kreditkarte durch das Kreditkartengerät zieht und mit einem koketten Augenaufschlag “Vierhunderteinundzwanzig Euro Siebenundachtzig” flötet.
Draußen an der frischen Luft fasse ich den festen Entschluss, dass ich mich zum letzten Mal auf feindliches Terrain begeben habe.
Ganz sicher.