Hell Yeah! (Der Tragödie erster Teil)

„Anfang und Ende allen Kummers ist dieser Ort – Berlin.“ So steht es geschrieben im schummrigen Licht der Damentoilette eines Kreuzberger Nachtlokals. Es ist einer jener Orte mit der perfektionierten Mischung aus Ranzigkeit (lotterhaftes Flohmarktmobiliar, Staub in den Ecken, zaghafter Service) und spät-hedonistischer Dekadenz (immer frische Lilien in den Blumenvasen). Die Hölle stelle ich mir anders vor. Plausibel hingegen scheint, dass diese irgendwo in Berlin auf verlorene Seelen wartet. So in etwa wird sich das auch das Regiekollektiv Signa gedacht haben, das in Kooperation mit der Volksbühne eine zeitgenössische Version von Dantes Inferno entwerfen will. Hoffentlich aus Gründen des Urheberrechts und nicht weil man glaubt, niemand wüsste mehr, wer den Vergil erfunden hat, wird der große Dichter durch das immer passende Substantiv „Club“ ersetzt. Dass Berliner Clubs mit den Höllenkreisen mehr als die rauchige Luft gemeinsam haben, weiß jeder, der schon mal Sonntagnachmittag das Berghain von Innen gesehen hat. Hölle – Berlin – Eine Runde Brainstorming: Denkbar wäre eine Rimini Protokoll-ähnliche Aktion, die eine Handvoll Besucher in die Schlange eines angesagten Technoclubs schleust und ihnen die folgenden Stunden als Theater verkauft. Oder aber, man lässt die armen Würstchen teilhaben an einem sogenannten Pubcrawl durch die Simon Dach-Straße, Anfang und Ende jeder garantiert touristisch vollkommen erschlossenen 24-Stunden-Happy-Hour-Nacht. Ganz so einfach machen Signa es sich nicht.

Der Anfang der schon vorab als „große Qual“ angekündigten theatralen Erfahrung ist das Große Haus am Rosa Luxemburg-Platz. Beim Bestellen einer Karte für den „Club Inferno“ wird der Besucher mehrfach darauf hingewiesen, dass er diese in einem Pavillon abholen muss, erst dort erhält er weitere Informationen zum eigentlichen Stück, etwa, wo genau es stattfindet.  Auf meine Frage, wo dieser Pavillon sei, antwortet die Frau an der Volksbühnenkasse: „Raus, dann links. Da, wo die Penner sitzen.“ Penner, aha, soso. Tatsächlich lungern vor einem gläsernen Kubus drei sehr mitgenommene Gestalten herum. Zwischen Ekeldecken, Pappkartons und einer Kiste Sterni stromert ein Hund, der auf Kommando bellt. Allen drein gemein ist dieser glasige, leicht entrückte Blick von Menschen, die über eine so alberne Konvention wie „Kein Bier vor vier“ nur schmunzeln können, weil sie  schon zwei Stunden früher alkoholbedingt verstanden haben, was die Welt im Innersten zusammenhält. Nur ihre reine Haut (keine Säufernase!) und der abwesende Gestank lässt vermuten, dass die drei nicht wie behauptet „hier pennen dürfen“, sondern am Ende des Tages in ihre adretten Altbauwohnen zurückkehren. “Gammelmetropole Berlin“ nennt das der Theaterkritiker der Süddeutschen Zeitung in einer abfälligen Vorabberichterstattung über den „Club Inferno.“ Insbesondere dessen zeitraubender Initiationsritus, also der Vorabbesuch des Pavillons, empfindet Herr Laudenbach als Angriff auf sein als Redakteur naturgemäß knappes Zeitpensum. Die Frage, die ich mir hier stelle: Müssen Theaterkritiker überregionaler Zeitungen ihre Club-Einladung auch selbst abholen oder erledigen das die Praktikanten im Kulturressort? Wenn ja, entgeht dem Kollegen der Volksbühne erster Streich.

In feinster Motz-Manier pöbeln die als Penner verkleideten Schauspieler alle an, die sich ihnen auf weniger als drei Meter nähern. „Wat willstn hier, hau doch ab! Theater, ey, wat denn, Theater?“ Hundebellen. Argumente seitens des Volksbühnenbesuchers, der lediglich seine Karte im Pavillon abholen möchte, werden lange Zeit in Grund und Boden berlinert, schließlich aber dessen Ernsthaftigkeit honoriert und die drei lassen einen passieren, nicht ohne ihm komplizenhaft zuzuflüstern: „Die Hölle ey, weißte, worauf de dich da einlässt?“ Hinter der Höllenpforte, im Inneren des schummrigen Pavillons, kommt eine Frau kommt auf mich zu, nimmt meine Hände und führt mich zu einem Sofa. „Kalte Hände“, sage ich und meine damit meine eigenen, woraufhin sie mitfühlend nickt. Wahrscheinlich hätte ich auch mit ihr über den Frühlingsbeginn oder ihren knappen Turnanzug sprechen können, aber wir reden nicht, sondern schauen uns minutenlang fest in die Augen. Keiner weicht dem Blick der anderen aus. Mir schießen dreihundert Gedanken durch den Kopf: dass ich vielleicht noch nie jemandem so lange und fest in die Augen geschaut habe; dass einen das wirklich angreift, emotional irgendwie; und dann erinnere ich mich an Marina Abramovics Performance „The artist is present“, bei der offenbar mehrere Besucher in Tränen ausbrachen, nur, weil sie der Künstlerin in die Augen schauten. Bevor mir Ähnliches widerfährt, ruft eine andere Frau, mondän im weißen Kunstpelzjäckchen, mich an einen Tresen. Kaltes blaues Licht. Die Frau rezitiert:

“Auf halbem Weg des Menschenlebens fand                                                                                                                                                      ich mich in einen finstern Wald verschlagen                                                                                                                                                    weil ich vom rechten Weg mich abgewandt.”

Ich nicke. Jetzt soll ich würfeln, immer vorausgesetzt, ich wolle die Hölle (die echte!) wirklich sehen. Leider kein Pasch, dafür eine teuflische Sechs, die jetzt auf mystische Weise den Beginn meines Trips festlegt, kommenden Sonntag, 18.40 Uhr, eine Adresse im Wedding. Ich nicke so ernsthaft wie möglich und gehe hinaus. Zum Abschied tue ich so, als wünschte ich den Pennern Schrägstrich Schauspielern, dass die kommenden Nächte wärmer werden und verschwende in bester Berliner Gammel-Manier ein paar weitere Stunden kostbare Lebenszeit, vielleicht die letzten (geht hier ganz prima, Herr Laudenbach!). Five days till eternity, baby.