Nun ist man ja als fleißiger Theatergänger Einiges gewohnt, ganz besonders, wenn es sich mehrheitlich um die Theater der Hauptstadt handelt. Meine Mama zum Beispiel geht auch gerne ins Theater. Das passiert dann aber in der – man muss das Kind beim Namen nennen – süddeutschen Provinz. Wenn die Schauspieler keine historischen Kostüme tragen, wird das kein guter Thetaerabend für meine Mama. Geschweige denn, wenn sie sich ausziehen, schreien, Flüssigkeiten auf der Bühne verschütten und so weiter und so fort. Was meine Mama sich vom Theater wünscht, sind keine Überraschungen und ganz bestimmt nicht das, was gemeinhin unter den Begriff des Regietheaters fällt. Bitte nicht falsch verstehen: Durchaus gibt es auch abseits der großen Städte gutes Theater. So erinnere ich gerne daran, dass das LTT (Landestheater Tübingen) einen wichtigen Beitrag zu meiner damals noch recht bescheidenen Theaterliebe geleistet hat. Obwohl der Ausflug an besagte Spielstätte mit dem Oberstufen-Englischkurs anlässlich der bis zum Exzess durchexerzierten Pflichtlektüre “One Language, many Voices” mit bösen Vorahnungen begann, waren wir unwilligen, muffigen Kulturignoranten danach wie verzaubert. Theater macht Spaß! Die Schauspieler dort trugen übrigens auch keine historischen Kostüme. Gut für meine Mama ist also wiederum, dass sich selbst das LTT nur zu Gastspielen in das Thalia Theater Tailfingen (und nein, leider nicht das in Hamburg) verirrt.
Bei einem ihrer letzten Berlin Besuche versuchte ich, meiner Mama etwas von der Magie der hiesigen Theaterszene nahezubringen, was in einer Katastrophe endetete, weil die Iphigenie in der Schaubühne nicht nur kein historisches Kostüm trug, sondern zu allem Überfluss auf einer schrägen, grasbewachsenen Ebene stand, gelegentlich wie ein Kind abwärts rollte und auch sonst so gar nicht die Erwartungen an die Protagonistin einer griechischen Tragödie erfüllte. Immerhin hat sich meine Mama tapfer geschlagen und ist bis zum Schluss brav sitzen geblieben. Und schließlich hätte es ja noch viel schlimmer kommen können! Wenn Lars Eidinger einen Minitanga in Form einer Elefantenmaske getragen hätte, wobei sein Gemächt als Rüssel fungierte – so gesehen in der letzten Spielzeit im “Sommernachtstraum” – oder sich der Schauspieler in persönlicher Ansprache an einen der Zuscahuer gewendet hätte und dabei recht ausfallend geworden wäre (ich zitiere nicht!) wie kürzlich in der Volksbühne.
Manchmal, nicht ganz so oft, aber manchmal geht es mir beim Theaterschauen wie meiner Mama. Oft muss ich an sie denken, wenn ich halb amüsiert, halb erstaunt das Publikum begutachte, das ohne mit der Wimper zu zucken sämtliche Absurditäten über sich ergehen lässt, weil man in Berlin ja mit allem rechnen muss, und oft frage ich mich, was in den Köpfen der als eindeutig zu identifizierenden Abonnenten vor sich geht, wenn sie in den vorderen Reihen mal wieder mit Sachen beschmissen werden. Haben diese, meist eher mittelälteren Besucher, nicht irgendwann die Nase voll von den Spielereien manch manischen Regisseurs? Sehnen sie sich vielleicht sogar nach einer textreuen, werktreuen, überhaupt rundum der dramatischen Vorlage verpflichteten Inszenierung, die ganz bescheiden dem Großen Ganzen den Vortritt lässt?
An meinem letzten Theaterabend habe ich zwar nicht an meine Mama gedacht, aber kurzzeitig über meinen eigenen, möglicherweise zu engen Werkbegriff gegrübelt. Man kennt es ja: Das Leben ist kein Ponyhof und Theater oft anstrengend, langweilig und zäh. Leider kommen Resümees wie diese auffällig oft nach einem Besuch im HAU zustande; wenn ich es mir recht überlege, habe ich keine einzige wirklich positive Erinnerung daran, vielleicht nicht einmal eine Neutrale. Man zweifelt dann wie gesagt an der potentiellen eigenen Engstirnigkeit, mit der man sich so stur neuen Theaterformen verschließt. Wenn man bei “Testing Stage: M.31 / K.62 / K.85” aber die hohen Erwartungen mit in Bertracht zieht, die ein verschwörerisches “Viel kann ich nicht verraten, aber das wird ganz, ganz toll!”, kumpelhaft vom Herrn an der Kartenkasse ins Telefon geraunt aufbauen, zudem den Bekanntheitsgrad der beiden Regisseure (wobei Dominique Gonzales-Foerster zu den ganz Großen der Bildenden Kunst gehört!) und nicht zuletzt die Information, es seien Aspekte von Kafkas “Prozess”, Fritz Langs “M – Eine Stadt sucht ihren Mörder” und Edvard Griegs “Peer Gynt” miteingeflossen – dann kann das Urteil kaum anders als vernichtend aussehen. Der Abend gestaltet sich nämlich wie folgt: Nach ein paar Minuten Stummfilm, unterlegt mit Ausschnitten aus “In der Halle des Bergkönigs”, wird die kino-artige Atmosphäre im HAU 2 jäh unterbrochen von einer Dame, die einen Ortstwechsel ankündigt. Dieser Ortswechsel führt nicht wie erwartet an einen der sagenhaften Orte, die unter “Thanks to the locations” im Programmheft aufgelistet sind (Clärchens Ballhaus, Horst Krzberg, Netto, Phillipps Spielzeugwerkstatt etc.), sondern lediglich ins HAU 1, wo man sich recht un-post-theatral in die Sitzreihen fallen lässt – um in den folgenden eineinhalb Stunden etwa zehn Frauen in der Nähe der Bühne dabei zuzusehen wie sie in ihre Headphones sprechen, mit Personen telefonieren, deren Identität unklar bleibt, zwischendurch einen Schluck Kaffee zu sich nehmen und Kreuze und Kreise auf eine Tafel malen, deren Raster mit der kryptischen Folge K1 bis K21 durchnummeriert ist. Der geneigte Zuschauer soll sich fühlen wie Josef K. im undurchscaubaren Bürokratieapparat, übertragen auf unsere vom Datenmüll überlastete Smartphone-Ära, schon klar. Am Ende der Bühne führt eine Tür ins, na wohin wohl?, die vielsagend angestrahlt wird. Aus dieser Tür tritt ab und an jemand, der zuvor aus den Zuschauerreihen ausgewählt wurde, von eben diesen Damen mit den unklaren Aufgaben. Unterbrochen wird die absolute Ereignislosigkeit von einem Gitarrensolo der Regisseurin (kurz, bedeutungslos?), der Ankunft einiger Menschen mit Instrumentenkoffern (dauerhaft, relevant?) und einem Telefongespräch über Lautsprecher mit einem gewissen Michael Ballhaus (prominent?). Aus Frust oder Lust am Zeitvertreib beginnen einige der Zuschauer, sich zu unterhalten: Dabei geht es immer auch ein bisschen um die Frage, ob das Gegenüber nicht Teil der Inszenierung ist (und bei dem englischsprachigen Pärchen in der Reihe hinter mir, er mit knallgrüner Brille, sie mit demselben Modell in aquamarin, finde ich den Gedanken nicht abwegig). Achselzucken allüberall, Well, it’s art und das Mädchen schräg hinten plaudert aus dem Nähkästchen, sozusagen, dass sie aus zuverlässiger Quelle wisse, dass die Musiker auf der Bühne spielen werden – at some time or another. Ich für meinen Teil gebe an dieser Stelle auf. Auch, weil ich weiß, dass dieses Schauspiel weitere dreieinhalb Stunden dauern wird; ich bin dann mal weg! Keiner hält mich auf meinem Weg nach draußen auf, auch nicht Frollein Headset. Das ist ja das Schöne an Theaterformen dieser Art: Man kann jederzeit selbst deren Ende bestimmen.Auf dem Weg zur U-Bahn kreuzt eine der Frauen mit Knopf im Ohr meinen Weg. Sie schaut nicht auf und geht eilig vorbei. Was hat es damit auf sich? Manchmal ist Theater wie ein leerer Raum. Da kann man dann alles und nichts hineininterpretieren. Wie man über die Mülleimer der Klara Lidén, einer schwedische Künstlerin, sagen kann: “Sie fordern keine Antwort auf die Frage nach ihrer Bedeutung.”, ist die Bedeutungs- respektive Ortlosigkeit auch auf der Bühne zuhause. Meine Mama sieht das bestimmt ganz genauso.