Homo ludens

Ein netter Aufhänger wäre: Neulich, beim Aufräumen, ist mir mal wieder Schillers “Über die ästhetische Erziehung des Menschen” in die Hände gefallen. Da hab ich mir die Zeit genommen, das heißt, da hab ich mich von meinem mich in höchste Verzückung versetzenden Hausarbeitsthema “Van Eycks Paele Madonna als Sacra Conversazione?” schweren Herzens losgerissen und das Buch zum, sagen wir vierten Mal durchgelesen, dann eine weitere halbe Stunde (!) meinen Pflichten als fleißige Bachelorstudentin entsagt, um diesen Text zu schreiben.

Tatsächlich verhält es sich ein klein wenig anders. Das Buch steht nämlich eigentlich weder in meinem Bücherregal, noch habe ich mein Zimmer aufgeräumt, wo es mir, angenommen, es wäre jemals in meinem Bestitz gewesen, in die Hände hätte fallen können, noch habe ich es drei beziehungsweise vier Mal durchgelesen, nämlich bis dato überhaupt nicht.

Der wirkliche Anlass nämlich ist sehr viel banaler: Ein kürzlicher Besuch in der zweitschönsten Stadt Deutschlands, eine gesellige, weinselige Runde und plötzlich, mitten in Gesprächen, die sich bereits gefährlich weit weg von einem vertretbaren Niveau bewegen, der Ausruf: “Jetzt alle mal einen Kreis bilden und auf den Bauch legen!” Abgesehen davon, dass auf dem Bauch liegen ganz schön anstrengend ist, wenn sich mehr oder weniger große Mengen Wein und Fischbrötchen darin befinden, kann man der Situation eine gewisse Absurdität nicht abstreiten. Unsere verhaltene Begeisterung beziehungsweise Unlust wurde schlichtweg ignoriert und kurze Zeit später fanden wir uns wirklich auf dem Bauch liegend wieder und mussten mit unseren Händen eine komplizierte Abfolge von Klatschbewegungen ausführen. Nach einer nicht enden wollenden Viertelstunde wurde das Spiel abrupt abgebrochen, nur um kurze Zeit später von einer Runde “Nilpferd in der Achterbahn” abgelöst zu werden. An den folgenden Abenden häuften sich solche oder ähnliche Ereignisse, bis wir nach drei spielwütigen Tagen feststellten: “Die wollen immer spielen!”

Zurück in der Heimat. Was auffällt: Plötzlich wird die Planung ganzer Abende dem Zufall einer Partie “Schere Stein Papier” überlassen. Oder einmal raten, in welcher Hand der Bierdeckel versteckt ist. Woher kommt sie bloß, diese plötzliche Spielwut? Zugegeben, das Thema ist nach Bar 25, Fusion etc. pp. vielelicht etwas abgegriffen. Bisher allerdings beschränkte sich der infantile Wunsch nach Toben und Raufen doch auf Ausnahmesituationen, oder?

Ein Spaziergang durch das schöne Friedrichshain bestätigt diese These: plötzlich schießen sozusagen allüberall sogenannte Ludotheken aus dem Boden. “Die Spielwiese” zum Beispiel. Oder das “Knobelholz”, eine kleine Bar mit durchaus ansprechender Innenraumgestaltung und penetranter Außenbeleuchtung. Hier kann man überteuertes Bier trinken und dabei knobeln. Weitaus größeren Zuspruch findet zwar unser aller Lieblingskneipe zwei Häuser weiter, aber da steht ja auch ein Tischkicker. Am Besten, man überlegt sich also bereits im Vorfeld, ob man sich mit seinen Freunden unterhalten möchte oder es in Kauf nimmt, dass die Mehrzahl sich die meiste Zeit am Kickertisch anstellen wird und nur vorbeikommt, um ab und zu den aktuellen Spielstand mitzuteilen.
Dann wundert man sich auch irgendwann nicht mehr über Nachrichtenverläufe wie diese:
– Was machst du noch?
– Erstmal spielen mit den Jungs. Dann…?
Theoretisch lässt sich das wahrscheinlich irgendwie so erklären: Weil die Zeiten immer härter werden, die Anforderungen an junge Menschen immer größer, der Zwang zur Individualisierung immer zwingender, steigt der grundsätzlich auch beim erwachsenen Menschen vorhandene Spieltrieb der Betroffenen exponentiell an beziehungsweise nimmt nicht, wie zu erwarten wäre, mit zunehmendem Alter ab…
Praktisch heißt das: Ich nehme mir gar nicht vor, mich mit Schiller auseinanderzusetzen, sondern arbeite mal besser an meiner Rückhand.