Icke und Icke

Meine Wenigkeit, um das Vokabular mal gleich an den schwer-subjektiven Sprachduktus des Stücks anzupassen, meine Wenigkeit, also ich und Pollesch hatten ein paar Anfangsschwierigkeiten. Es lief nicht so gut mit uns, ich mochte nicht, dass da, der Einfachheit halber einfach gesagt, immer so viel geschrien wird und er würde wohl mit den Augen rollen angesichts meiner Vorliebe für einen halbwegs klassisch-dramatischen Stückaufbau. Weil große Dinge manchmal etwas Zeit brauchen und ich ein geduldiger Mensch bin, gab ich uns noch eine Chance. Und siehe da: Heute ist alles anders.
Er rührt mich zu Tränen. Fast. Davon später mehr.

Ein Mann in Uniform, bei dem die Kostümbildnerin natürlich an Kaiser Franz gedacht haben muss, denn die Frau an seiner Seite trägt ein Sissi-typisches Rüschenkleid und an der Wand des Raumes, den man nicht sehen kann, hängt auch noch ein Sissi-Porträt. Nur zur Sicherheit, scheint es, falls der Zuschauer die ersten beiden Hinweise nicht kapieren sollte. Dieser Mann also wurde eigener Aussage zufolge vor zweihundert Jahren eingefroren, zu einer Zeit, als man glaubte, Zigaretten gefährdeten die Gesundheit und Gurken aß, für ein längeres Leben und jetzt wieder aufgetaut, sozusagen. Empfangen wird er von Ms. Petersen, die allerdings in zweifacher Ausführung vorhanden ist, neben der Dame im Sissi-Kleid hört auch die dritte Protagonistin auf diesen Namen, eine melancholische ältere Dame, deren lyrische Ambitionen in einem zauberhaften Gedicht über einen Schmetterling, der zur Raupe wird, kulminieren. Desweiteren darf der pollesch-typische Chor nicht fehlen, diesmal ausgestattet mit pseudo-futuristisch anmutenden Raumfahrtanzügen (die leider aus aktuellem Anlass auch ein wenig an Schutzanzüge erinnern).

Schon der Eröffnungsdialog zwischen dem namenlosen Protagonisten, gespielt oder, darf man sagen, verkörpert? vom fabelhaften Martin Wuttke, und der Frau im Sissi-Kleid ist von epischer Musik unterlegt, ganz großes Kino, das da auf die Wand vor der Bühne projiziiert wird. Auf die Wand vor der Bühne? Genau und an dieser Wand stößt sich nicht nur der Hauptdarsteller; vielmehr ist sie der Auftakt zu einer Reihe theatertheoretischer Überlegungen. Parallel zur Erkenntnis, dass Buttercremetorte und Zigaretten uneingeschränkt konsumiert werden sollen, hat sich das Theater in Polleschs Weltentwurf nämlich endlich dazu durchgerungen, die vierte Wand ganz wörtlich zu nehmen und damit Schauspielern und Publikum einen großen Gefallen getan, denn von nun an müssen die beiden sich nicht mehr aushalten. Ein abwegiges, ein interessantes Gedankenspiel. Es ist ein reines Theater, das hier exerziert wird, befreit von sich selbst.

Von den Überlegungen zur vierten Wand geht es weiter zum nächsten theaterwissenschaftlichen Exkurs und man fühlt sich wie in der Vorlesung zur Dramentheorie im dritten Semester: Entkörperlichung, Verkörperlichung, Körper haben, Leib sein… Allerdings, und deshalb funktioniert der Abend, werden diese Theorien, die eigentlich Schauspieler und Rolle thematisieren, auf die menschliche Existenz als solche ausgedehnt.

Wie kann man jemanden lieben, wenn der Körper nicht Hülle für ein Inneres, gemeinhin als Seele bezeichnet, ist, sondern alles, was das Individuum ausmacht? Dass es diese Seele nicht gibt, dass da nichts ist, was sich entäußern könnte oder den sterblichen Körper überleben, das demonstriert Wuttke sprach- und bildgewaltig, wenn er sich – und da ist Pollesch dann doch wieder ganz er selbst – in nicht enden wollenden Monologen, sich verhaspelnd, über die eigenen Worte stolpernd über diese Nicht-Existenz, dieses menschengemachte Hirngespinst “Seele” ereifert. Wenn er aus der Mitte des Chores heraus und an seine Spielpartnerin heran tritt und heftig gestikulierend ruft: “Hier bin ich! Da ist nichts außer mein Körper!” Metaphorisch fragwürdig ist sein Vergleich mit einem Geldschein, der ja auch nur ein Stück Papier ist, eigentlich, denn tatsächlich aufgeladen mit einem willkürlich gesetzten Wert. Die Seele, ein kapitalistisches Instrument? Nicht ganz.

Pollesch bedient sich, ganz Kind seiner Zeit, dabei sämtlicher Mittel des post-dramatischen Theaters. Es wird schnell gesprochen, viel sowieso, meistens aneinander vorbei. Oft sind die Worte für den Zuhörer aber mehr Hintergrundmusik für das eigene Kopfkino. Wer behauptet durchgehend – auch wenn sich die Gesamtdauer zugegeben nur auf etwas mehr als eine Stunde beläuft – mit voller Aufmerksamkeit bei der Sache zu sein, der ist entweder ein Übermensch oder er lügt. Ausnahmsweise macht der leider allgemein inflationäre Einsatz von Video hier einmal Sinn, denn mehr als zwei Wandelemente werden nicht entfernt und so würden dem Publikum einige wunderbare Vorgänge auf der Bühne verborgen bleiben, so etwa die als Zwischenstücke angelegten Handlungen des Chores, wovon besonders dessen Kollektiv-Weinen, untermalt von den Liedzeilen “Guten Menschen kommen oft die Tränen”, begeistert. (Amüsant der Blick ins Publikum – stelle ich mir vor, denn tatsächlich konnte ich den Blick in diesem Moment nicht vom Videoscreen wenden – wie jedem Zuschauer die Frage, ob er oder sie ein guter Mensch ist, ins Gesicht geschrieben steht.)

Eine klassische Dramaturgie gibt es natürlich nicht, wo kämen wir denn da hin (würde Pollesch wohl entsetzt ausrufen); alles ist Fragment und Montage. Der Regisseur hat also seine Hausaufgaben brav erledigt. Neben der vorbildlichen Selbstreflexion theatraler Mittel faszinieren vor allem die existenzialistischen radikalen Thesen zum titelgebenden Ego. Obwohl oder gerade weil dieses Pollesch zufolge ein Konstrukt ist arbeitet der moderne, will sagen postmoderne Mensch dagegen an – das Ergebnis ist allzu bekannt unter dem Stichwort des Wahlzwanges und dem unbedingten Erschaffen einer eigenen Individualität. Für Subjekte dieser Art hat Pollesch wenig übrig: “Selbstverwirklichungs-Fanatisten-Sau” schreit Wuttke seinem Gegenüber, vielmehr aber uns entgegen. Hoppla, da komme ich als Zuschauer nicht mehr mit. Soll ich mich nun verwirklichen oder nicht? Haftet dem Begriff als solchem etwas Negatives an? Und machen man es sich mit der einfachen Gleichung Mensch gleich Körper minus Seele plus Schmerz – denn Schmerz kommt von Liebe und die wird von Beginn an thematisiert – nicht sehr einfach? Was ist mit Verantwortung, Freiheit, Gefühl…? Doch bevor Pollesch in die diffusen Welten weiterer philosophischer Grundbegriffe vorstößt, schließt das Stück mit dem wunderbaren Satz, hinter dem natürlich ein Fragezeichen steht, stehen muss: “Vielleicht wollen die Körper einfach nur miteinander sprechen.”

So viel Schönheit, so viel Wahrheit und das von jemand, mit dem man eigentlich schon abgeschlossen hatte. Schönheit und Wahrheit, Doppelpunkt, Schönheit ist nicht immer wahr und Wahrheit ist nicht immer schön, Komma, leider. Aber einen Versuch ist es wert.
Pollesch und ich, das wird vielleicht doch noch etwas Großes.