Thomas Bernhard ging zur Beruhigung auch ins Kaffeehaus. Das Gute an den Wiener Kaffeehäusern ist ja nicht nur deren tadelloses Mehlspeisensortiment, sondern dass sie auch nach zwanzig Uhr noch offen haben, also dann, wenn Theatervorstellungen beginnen. Einige der bekanntesten (Landtmann, Schwarzenberg) befinden sich in unmittelbarer Nähe der großen Häuser und viele Abonnenten gönnen sich nach der Premiere noch ein Achterl oder ein Seidel oder einen Tafelspitz. Ich gönnte mir einen Heideboden von Judith Beck, dabei konnte von Gönnung keine Rede sein, eher saß ich die Schande aus, mit Blick auf die Musik. Im hinteren Teil des Café Schwarzenberg stand ein Flügel und an diesem saß eine Frau in weißer Bluse, schwarzer Hose und düsterem Kajalstrich. Ihr trauriger Blick passte nicht zu den vergnügten Stücken, die sie spielte. Neben ihr posierte ein Geigenspieler, wie man ihn sich nicht besser ausdenken hätte können, weil Original: Wichtig zitternder Backenbart, ums Handgelenk schlackerndes Goldkettchen, sonnengeküsst. Ich saß dort, weil ich es vergeigt hatte.
Zehn Minuten vor der Zeit ist auch des Kritikers Pünktlichkeit. Zu spät kommen wird in vielen gesellschaftlichen Situationen ähnlich gehandhabt wie Namen-Vergessen (Gesichter übrigens nicht), schön ist es nicht, aber es geht ja allen gleich. Das Theater bildet da leider eine große Ausnahme. Aus eigener Erfahrung kenne ich die Nacheinlasspolitik vieler Häuser im deutschsprachigen Raum. In fast jeder Inszenierung gibt es einen Moment, in dem Zuspätkommende in den Saal geschleust werden, üblicherweise an einer „lauten Stelle“. Netterweise denkt die Regie schon bei der Probe an das Allzumenschliche. Man steht als Zuspätkommender dann in einer mehr oder weniger großen Gruppe im Foyer herum, einer Schicksalsgemeinschaft, der nichts, aber auch gar nichts mehr peinlich ist. In meinem knappen Jahrzehnt als Intensivzuschauer und notorischem Zu-Spät-Kommer wurde mir nur einziges Mal der Einlass verwehrt, 2011 im Deutschen Theater Berlin. Keine laute Stelle. Erst neulich tadelte mich die Pressesprecherin des Burgtheaters schriftlich, die Pressekarte für Schlechte Partie nicht pünktlich genug abgeholt zu haben, man könnte auch sagen: zu spät. Ausgerechnet das Burgtheater lehrte mich an diesem Abend die möglicherweise endlich fällige Lektion. Das Burgtheater mit seinen vier verschiedenen Spielstätten, die ich (auch das nicht zum ersten Mal) durcheinandergebracht habe, was in einer Verkettung ungünstiger Umstände dazu geführt hatte, dass ich sieben Minuten nach acht keuchend am Kasino angekommen war. Von der großen Modekritikerin Anna Wintour heißt es, keine Modenschau fange ohne sie an, für eine Theaterkritikerin gilt das leider nicht. Egal, wie sehr ich die Mitarbeiter von meiner unbedingten Anwesenheit im Theatersaal zu überzeugen versucht hatte, war ich nicht weiter als bis ins Foyer gekommen. Lasst, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren.
Kürzlich lobte einer meiner Auftraggeber experimentelle Texte. In allerbester Erinnerung blieb mir der eines Kollegen aus Leipzig, der folgendermaßen begann: “Um es gleich zuzugeben: Ich kenne nur den halben Abend. Nach einer Stunde bin ich gegangen. Länger habe ich es nicht ausgehalten.” (Leser finden solche Ansätze oft furchtbar eitel. Ich nicht). Könnte man, hatte ich in rasender Verzweiflung, das Kasinofoyer durschreitend, gedacht, sich nicht das Stück von jemand anderem nacherzählen lassen? Schließlich hatte ich den Text gelesen, wusste also schon mal, worum es ging. Ein verlorener Sohn begeht schriftlichen Vatermord, das Ganze spielt in Kärnten, dem, wie man weiß, nationalistischsten Bundesland Österreichs. Zu allem Überfluss hieß es auch noch Lass dich heimgeigen, Vater. Könnte man also nicht was übers Vergeigen schreiben?
Auf die Haltung kommt es an, dachte ich mir, um zwanzig nach acht im Café Schwarzenberg sitzend. Dort wollte ich bis zum Ende der Premiere warten, ohne zu wissen, was das bringen sollte. Es war ein Jammer. So wie die musikalische Untermalung im Café Schwarzenberg – dass der Goldkettchenträger sein Instrument beherrschte, konnte keiner behaupten. Kleine Patzer überspielte er durch heftiges Vibrato. Seine Kollegin schaute noch trauriger als der Ober zum wiederholten Mal ihren Espresso vergaß. Mit ihren Heideboden-Rot gefärbten Haaren und der damenhaft hängenden Wangenpartie ähnelte sie der Einlassdame im Volkstheater auf unheimliche Weise. Auch das Volkstheater hat drei Spielstätten und auch hier kann ich aus Erfahrung berichten, dass eine Verwechslung nicht zwangsläufig dazu führt, dass man das Stück verpasst. Bei guter Verkehrslage ist die Strecke Haupthaus – Volx Margareten in achtzehn Minuten zu schaffen. Traurig wirkt die Volkstheatereinlassdame nie, eher wie jemand, der sich selbst bei Laune halten muss mit dem immer gleichen Satz bei der Ticketkontrolle: „Vergessen Sie bitte nicht, nach Ende der Vorstellung ihr Telefon wieder anzuschalten.“ Irgendjemand lacht eigentlich immer und bestimmt ist jedes Mal jemand dabei, der dies aus Erleichterung tut, weil er gerade noch rechtzeitig ins Theater gekommen ist. Wer zuletzt lacht, lacht dann eben in der Schicksalsgemeinschaft der Nacheingelassenen.
So prominent, wie das Piano platziert war, stand es allen Toilettengängern aufs Unangenehmste im Weg, gewissermaßen durchquerten sie das Bühnenbild dieses Schwarzenberg-Mini-Orchesters. Das Bühnenbild war auch der Grund, warum ich im Theater abgewiesen wurde. Sie habe, hatte die Dame vom Einlass eiskalt verkündet, von der Regisseurin die strenge Anweisung erhalten, niemanden mehr einzulassen. Sehr viel mitfühlender war ihr junger Kollege gewesen, offenbar Student ohne nennenswertes Theaterinteresse. Wir hatten geplaudert. Wie viele Stücke ohne Nacheinlass auskommen? Eines von zehn. Wie viele Zuschauer im Schnitt pro Vorstellung zu spät kommen? Drei oder vier. Wie viele Zuschauer während der Vorstellung gehen? Kommt auf das Stück an. Manchmal, wie bei der Kastrationsszene bei Heinrich VIII, der halbe Saal. Nennen wir es Schicksal, aber ausgerechnet heute war mein Text in der Welt erschienen, in dem ich dafür plädierte, schlechte Vorstellungen frühzeitig zu verlassen. Das hatte meinen theaterskeptischen Gesprächspartner amüsiert und er hatte vorgeschlagen, jetzt in den milden, typischen Wiener Zynismus verfallend, ich solle doch einen Text schreiben, warum man pünktlich kommen muss zum Theater.
(Ich darf nicht zu spät kommen ins Theater.
Ich darf nicht zu spät kommen ins Theater.
Ich darf nicht zu spät kommen ins Theater.
Ich darf nicht zu spät kommen ins Theater.
Ich darf nicht zu spät kommen ins Theater.
Ich darf nicht zu spät kommen ins Theater.
Ich darf nicht zu spät kommen ins Theater.
Ich darf nicht zu spät kommen ins Theater.
Ich darf nicht zu spät kommen ins Theater.
Ich darf nicht zu spät kommen ins Theater.)
Dann hatte ich ihn gefragt, wie viele Theaterkritiker bei irgendeiner Premiere abgewiesen worden waren. Keiner außer mir. „Zigarette?“
Der Migrationshintergrund des Geigers im Café Schwarzenberg, damit haben viele in Kärnten ein Problem, was mich zurück zum Stück brachte und der dankbaren Steilvorlage, die dieser Text einem Nachdenken über die gegenwärtigen politischen Zustände geliefert hätte, trägt der Vater des Erzählers doch immer einen blauen Arbeitskittel, blau, FPÖ und so weiter und so fort. Manchmal überkommen einen als Kritiker schon beim Lesen des Texts solche Anwandlungen, Geistesblitze, universale Zusammenhänge, dass man am liebsten gleich und auf jeden Fall vor der Premiere losschreiben würde. Handke, dachte ich mir jetzt traurig im Kaffeehaus sitzend, ich hätte so gerne Handke erwähnt, seines Zeichens ebenfalls Kärntner und Vatermörder im übertragenen Sinn. Auffallend viele große österreichische Schriftsteller eint ihr Dasein als Nestbeschmutzer, als Verräter ihrer nationalen Identität. Allen voran Thomas Bernhard, der fand, Wien sei die abartigste Stadt der Welt und Österreich von Grund auf verdorben und im Prinzip kreisen seine wahnsinnig langen Sätze, die ja noch immer Vorbild sind für Nachwuchsschriftsteller landauf, landab, einzig und allein um seinen Herkunftsekel, naturgemäß ein Ekel, der sich, wenn nicht vollständig tilgen, so doch erheblich mindern ließe, mindern hätte lassen, wenn Bernhard sein ihm so verhasstes Heimatland verlassen hätte, aber bekannterweise blieb er sein Leben lang Wiener und schimpfte lieber aus Ohrensesseln heraus auf das Burgtheaterpublikum und dessen Schauspieler, anstatt einfach mal nicht mehr hinzugehen. Oder gelegentlich zu spät zu kommen. Erst kürzlich erzählte mir jemand, Bernhards größter Wunsch sei es gewesen, bei einem seiner ausgiebigen Spaziergänge (den Graben rauf, den Graben runter) erschlagen zu werden von einem wütenden Landsmann, was ich ganz ungeheuerlich, aber auch sehr lustig fand. Gehen beruhigt, das gilt nicht nur ab und an fürs Theater, sondern noch viel mehr, wenn das Gemüt in Aufregung ist.
Ich ging also den ganzen Weg vom Café Schwarzenberg zu Fuß nach Hause und schrieb diesen Text.