Es war exakt wie beim Yoga, wenn man ein Asana, etwa das Happy Baby, nach dem ersten Durchgang spiegelverkehrt wiederholte. „Now we know where we are going“, gurrte Leigha Butler mit ihrer Räucherstäbchenstimme aus dem YouTube-Video heraus. „Enjoy the journey.“ Das mit dem Genießen ist in Zeiten einer weltweiten Pandemie natürlich so eine Sache. Aber man wusste ja, was kommen würde, und konnte dementsprechend loslassen. Und loslassen war nicht nur beim Yoga wahnsinnig wichtig.
Von einem Lockdown Light war dieses Mal die Rede, dabei weiß man doch, dass in jedem Diätprodukt der Teufel steckt. Spontan fiel mir die in den letzten Monaten in meiner Gegenwart etwas zu häufig konsumierte Cola Light ein und kurz darauf jene Tätowierung, die mich so frech zum Weitertrinken aufgefordert hatte. Beidem hatte ich mich entzogen. Dem Lockdown konnte ich mich, wie alle anderen, nicht entziehen.
Wenigstens der Berliner Himmel wirkte im letzten Quartal dieses bizarren Jahres viel leichter als in vorherigen Wintern, nicht wie eine stehen gelassene Kartoffelsuppe, eher wie ein Glas Hafermilch, und das sogar im November. Konnte daran der Klimawandel schuld sein? Oder das nationale Bekenntnis zum Homeoffice?
Wenig überraschend war Cocooning das Gebot der Stunde. Menschen sollten zu Hause bleiben und dabei möglichst viel konsumieren, Biobettwäsche mit einer Fadendichte von 300 beispielsweise. Mein bescheidener und zugleich völlig abartiger Wunsch derweil war, in Berlin eine Wohnung zu finden. Das, nennen wir es mal, Problem bestand schon seit etwa einem Jahr. Während dieser Zeitspanne hatte ich es auf exakt zwei Besichtigungen gebracht. Einmal, im Frühjahr, fuhr ich mit dem Fahrrad zum südlichsten Ende Neuköllns, das genau genommen schon nicht mehr zum Stadtgebiet gehörte, und wunderte mich noch, dass sogar die Bürgersteige gekopfsteinplastert waren. Die Wohnung befand sich in einem ehemaligen Krankenhaus, nicht unähnlich der Jüdischen Mädchenschule und so hübsch saniert, dass ich sofort eingezogen wäre, aber: kein Balkon und keine Chance, dass einen da draußen jemals jemand besuchen kommen würde. Die zweite Wohnung war ähnlich randlagig und hatte nichts mit meinem Bild von Charlottenburg zu tun, einem Kiez, in dem doch jeden Tag Wochenmarkt war und man sämtliche Blumenhändlerinnen mit Vornamen kannte. Noch dazu war alles, was in der Anzeige stand, erstunken und erlogen. Der Vermieter war ein etwa fünfundsiebzig Jahre altes Männlein, das mich an meinen verstorbenen Musiklehrer Herr Witzenbacher erinnerte (der Geigengott hab ihn selig). Frei von jeder Scham führte er mich durch die als “2-Zimmerwohnung in Stadtvilla” angepriesene Immobilie, ein schäbiger Fünfzigerjahrebau mit Linoleumboden statt “Dielen”, keinem statt “einem Balkon” und einer Miele-Spülmaschine, die mein immer für die Techniknostalgie früherer Zeiten empfänglicher Onkel bestimmt in seine Sammlung aufgenommen hätte. Auch ging es längere Zeit um die Vorzüge eines Einbauschranks, der mich an das in der siebten Klasse durchlittene Waldschulheim erinnerte. Jetzt ergab alles Sinn, die Angabe einer Telefonnummer statt einer E-Mailadresse, die nicht vorhandenen achthundert Mitbewerber. Es hätte mich nicht überrascht, wenn mich das Männlein gebeten hätte, mich in Zukunft per Fax zu kontaktieren. Dazu kam es natürlich nie.
Kurz erinnerte mich das an die Zustände im Neuköllner Gesundheitsamt, wo dem Tagesspiegel zufolge mehrere Dutzend Mitarbeitende jedem zuvor vom Robert Koch Institut DURCHGEFAXTEN Coronafall hinterhertelefonierten, vorzugsweise aufs Festnetz. Für einen Podcast blieb offenbar trotzdem noch genug Zeit. Warum so wenige Leute die Corona-Warn-App installierten, konnte ich nicht verstehen.
Derweil kamen neue Kinder auf die Welt. Schon bevor ich zum ersten Mal ein Foto von ihr sah, verliebte ich mich in die kleine Rosa, schon aufgrund ihres Vornamens. Man muss dazu sagen, dass ich vor nicht allzu langer Zeit eine absurde Diskussion geführt hatte zu der Frage, ob man als Feministin seine Tochter so nennen dürfe, dabei weiß man doch, dass die Assoziation rosa gleich girly ein kulturelles Konstrukt ist und die heutigen Geschlechtsfarben bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts andersherum besetzt waren und Rosa früher mal die Farbe der Könige war und die offizielle Feminismusfarbe seit den Siebzigern sowieso Lila ist. Natürlich hatte ich am Ende recht. Der kleinen Rosa schickte ich nicht wie den letzten Babys whippetgraue Schnabeltassen, sondern Spucktücher in Softeisfarben und ökologisch zertifiziertes Plastikbesteck und für ihre Mutter eine Flasche Südtiroler Hopfensaft. Die Süddeutsche Zeitung empfahl derweil, jungen Eltern lieber Hörbuchabos zu schenken oder selbstgemachtes Pesto oder mit deren Erstgeborenen auf den Spielplatz zu gehen: “Einfach mal die Kinder nehmen und Tschüss.”
Egal ob für mich oder andere: Nach wie vor übte Shoppen einen großen Reiz auch mich aus, so wie auf viele, gemessen an den tagein, tagaus die Friedrichshainer Straßen blockierenden DHL-Autos. Noch vor dem zweiten Lockdown kaufte ich mir einen wadenlangen Mantel aus recycelten Daunen. Zum einen, weil das Hygienekonzept der meisten gastronomischen Einrichtungen in einer einzigen, schnell erklärten Maßnahme bestand: Fenster auf. Zum anderen, weil das einzige, was die Welt von mir in den kommenden Wochen zu sehen bekommen würde, Mäntel, Socken und Schuhe wären. Der Zeit zufolge lag ich mit meinen martialischen Dr. Martens auf der Höhe der, nun ja, Zeit. Sie hatten sich schon einige Winter lang bewährt, weil man sich damit fühlte wie eine Kriegerin, gemäß Rainald Goetz’ schönem, wahrem Satz: “Wütend schritt ich voran.” Mit dem Unterschied, dass ich neuerdings oft kein bisschen wütend war. Das mit dem ganzen Shopping für die Katz war wie eine Art “Des Kaisers neue Kleider” unter umgekehrten Vorzeichen: Wir waren angezogen und hatten den Kopf voller Trends, in Wahrheit aber hätten wir ebenso gut nackt sein können.
Als sehr sinnvoll empfand ich den Kauf neuer Laufschuhe, schließlich hatte sich meine Achillesferse von den Strapazen des ersten Lockdowns vollständig erholt. Zu diesem Zweck fuhr ich mit dem Rennrad zum Ku’Damm und fand mich wieder in einer Szene, die den Niedergang des Einzelhandels nicht besser hätte beschreiben können. Karstadt Sports, ein prominent zwischen Bahnhof Zoo und Tauentzienstraße hingekegelter Brutalismusbau, hatte Räumungsverkauf. “Alles muss raus” stand auf riesigen, sich über mehrere Stockwerke entrollenden Bannern. Corona hin oder her, das musste man den Leuten nicht zwei Mal sagen. Beim Anblick der viertelleeren Regale fühlte ich mich an kubanische Lebensmittelgeschäfte erinnert. Bemerkenswert, wie viel Kundenkontakt der Mitarbeiter der Laufschuhabteilung noch performte, ein tapferer Kapitän auf seinem sinkenden Schiff. Er tat mir leid, und ich konnte nichts für ihn tun. Wahrscheinlich bekam er nicht mal eine Provision. Abgesehen von den Laufschuhen kaufte ich eine Schwimmbrille, eine Badekappe und etwas, das ich kurz darauf bereits vergessen hatte, und bezahlte lächerlich wenig. Yogablocks waren ausverkauft.
Einige Zeit später hatte ich bei Decathlon einen kurzen Leif-Randt-Moment. Dessen Berlinroman “Allegro Pastell” gehörte zu meinen kulturellen Highlights dieses leseintensiven Jahres, auch weil die Protagonistin das Sportkleidungshoppen beim Discounter als Teil ihrer sorgfältig kuratierten personality begreift. Anders als Tanja Arnheim brachte ich es allerdings dann doch nicht über mich, mehr als ein paar Fleecehandschuhe für 1,99 Euro zu erwerben, dabei wirkten die Decathlonmitarbeiter viel ausgeglichener als die bei Karstadt Sports. Als antizyklischer Kauf muss wohl die aus recyceltem Plastik hergestellte, in einem semi-vertrauenswürdigen Onlineshop erstandene Reisetasche von Patagonia bezeichnet werden.
Dass meine Angst wuchs, und zwar ebenfalls antizyklisch – schließlich stellte sich den Leitmedien zufolge doch zusehends eine allgemeine Pandemiemüdigkeit ein – bewies meine Alltagsmaskenwahl. Bislang hatte ich meine drei im Wechsel getragenen Modelle (Perlmuttweiß, Pink-Orange, Blumenprint einer Nürnberger Designerin) eher als modisches Statement betrachtet. Je mehr ich jedoch über das Post-Fatigue-Syndrom las, die lange nach einer überstandenen Corona-Infektion anhaltende, dauerhafte Erschöpfung, desto mehr zweifelte ich an der Schutzfunktion einer höchstens bei dreißig Grad waschbaren Maske. Die Zeit war reif für FFP2, das Filtering Face Piece, fünf Euro das Stück. Die zuvorkommende Apothekerin gratulierte mir zu meiner Entscheidung, zusammen mit dem Hinweis, der Schutz vor einer Ansteckung sei damit für zwei Stunden garantiert. Das kam mir sehr kurz vor. Von da an fragte ich mich bei jedem Foto, auf dem die Kanzlerin oder andere wichtige Menschen mit FFP2-Masken zu sehen waren, ob diese wohl seit mehr als zwei Stunden in Gebrauch waren, und fühlte mich wie eine Denunziantin. Meine eigene FFP2-Maske tauschte ich spätestens dann aus, wenn der die Nase überspannende Metallbügel gebrochen war, manchmal auch ein bisschen früher. Wenn mich das schlechte Gewissen überkam, und das passierte öfter, dachte ich an M., der seine Einwegmaske immer zum Trocknen am Fahrradlenker befestigte, und daran, was Corona aus uns gemacht hatte: obrigkeitshörige Spießbürgerinnen.
Genau wie im ersten Lockdown telefonierte ich viel, jetzt sogar, next level, mit Instagram- statt Facebookfreundinnen, jedenfalls war das mal der Plan gewesen, denn besonders zum Jahresende hin schienen alle wieder dermaßen beschäftigt zu sein, dass Telefonate mehrere Tage im Voraus geplant und dann doch kurzfristig abgesagt wurden. Einen anderen Instagramfreund traf ich sogar in real life, zu Spaziergängen mit einem zauberhaften Pudel, der nach der Popsängerin Robyn benannt war. Dann war da noch Pudelmischling Toni, mit dessen Besitzerin ich am Paul-Lincke-Ufer Croissants mit flüssiger Haselnussfüllung aß, während türkische Männer mit riesigen Schnauzbärten es für eine gute Idee hielten, ihre Boulekugeln bis knapp vor unsere Füße zu werfen. Tonis Stirnfransen hingen ihm in die Augen, ein Hinweis darauf, dass von den staatlich verordneten Einschränkungen wohl auch Hundesalons betroffen waren. Inzwischen hatte ich mich halbwegs mit der Vorstellung arrangiert, keine Windhundemama, sondern eine Pudelmama zu werden, die durften in der Deutschen Bahn auch ohne Aufpreis mitreisen. Schuld waren der empathielose Hautarzt und sein Allergietest und seine Weigerung, noch irgendetwas für mich zu tun, außer mich meinem hundelosen Schicksal zu ergeben. Mit Ausnahme des Matheabiturs war Aufgeben allerdings noch nie mein Ding gewesen.
An einem Sonntagvormittag, der so feucht war wie eine Pudelschnauze, fuhr ich mit einigen Freundinnen und der Mischlingshündin Lilli in den Tegeler Forst. Dem herbstlichen Pilzesammeln begegnete ich qua Erziehung mit ähnlichen Vorbehalten wie dem Bärlauchsammeln im Frühjahr. In der Vorstellung meiner Mutter war die Wahrscheinlichkeit, an einem Kahlen Krempling zu sterben, fast so hoch wie beim Fahrradfahren mit AirPods im Berliner Straßenverkehr (übrigens kann man mit dem Modell der ersten Generation viel besser telefonieren). Anlass zur Sorge gab es dieses Mal allerdings nicht, weil in unserem Pilzkörbchen nichts landete außer die Schalen der unterwegs verzehrten Mandarinen. Es war schon fast Advent.
Natürlich backte ich wieder. Pumpkin Cheesecake und leicht verhunzte Mohnkekse und Nussplätzchen in Vulvaform (dass ich nie wieder Vagina und Vulva verwechseln würde, hatte ich Liv Strömquists “Der Ursprung der Welt” zu verdanken). Wie viele stillende und schwangere Frauen es in meinem nahen Umfeld gab, merkte ich wieder einmal, als mein mit Bourbon verfeinerter Pecan Pie freundlich aber bestimmt zurückgewiesen wurde. Außerdem backte ich Tonkabohnen-Macadamia-Kipferl, ohne zu wissen, dass Tonkabohnen bei übermäßigen Verzehr giftig sind. Ohne schlechtes Gewissen benutzte ich hingegen das Sonderedition-Duschgel von Weleda – mein erster und einziger Hamsterkauf dieses Jahr – und jenes ebenfalls nach Tonkabohne duftende Parfum, das mir von einem hippen New Yorker Label als verfrühtes Weihnachtsgeschenk geschickt worden war, in einer personalisierten Flasche. Am Anfang roch es nach Babyfeuchttüchern, bald jedoch wie ein Versprechen – und schließlich würde doch alles gut werden, oder?
Die Wohnungssuche sprach leider eine andere Sprache. Einmal war ich so verzweifelt, dass ich dem ImmoScout-Bot mein Leid klagte. Mir war schon klar, dass es sich dabei um eine sogenannte künstliche Intelligenz handelte, und trotzdem war sein “Ich verstehe Ihre schwierige Situation” so wohltuend, dass ich plötzlich verstehen konnte, warum man Robbenroboter in der Altenpflege einsetzen will. Kurze Zeit später hatten sie mich so weit, dass ich mir einen Premiumaccount erstellte. Bislang hatte ich mich mit dem Argument geweigert, das System als solches (Mietmotivationssschreiben, die Berliner Immobilienblase, den Kapitalismus) nicht unterstützen zu wollen, dabei war ich schlichtweg zu geizig gewesen. Der oft zitierte schwäbische Geiz, er hatte gleichaltrige Freunde längst zu Hausbesitzern gemacht, während ich selbst weder ein Bett noch einen Schrank besaß, was meine Mama stellvertretend für mich zum Weinen brachte. Mit einer Mischung aus Fatalismus und innerer Emmigration legte ich also ein Profil an, inklusive jenes Fotos, das ich einige Monate zuvor bei einer feministischen Instagramchallenge verwendet hatte, wohl wissend, wie schäbig das war. Dann schrieb ich einen Text, für den ich mich an jeder anderen Stelle ins Bodenlose geschämt hätte, von wehenden Vorhängen und einem Schreibtisch im Schattenspiel, weil ich dachte, so was wollen sie vielleicht lesen, die Halsabschneiderhausverwaltungen. Von nun an verfolgte ich die Zugriffszahlen meiner Wunschimmobilien mit ähnlichem Eifer wie andere die Corona-Neuinfektionen. Auch dafür bezahlt man nämlich bei ImmobilienScout24: um zu sehen, wie viele andere arme Seelen ebenfalls das tiefe Tal der Berliner Wohnungsnot durchwandern. Nach vier Tagen hatten 1733 User dieselbe Immobilie mit einem Herz versehen wie ich und 844 davon eine Kontaktanfrage gesendet. Zahlen, die mein Vorstellungsvermögen überstiegen und dafür sorgten, dass ich von einer Berghütte zu fantasieren begann, in die ich mich bis zum Ende der Pandemie verschanzen könnte. “Einfach mal die recycelte Reisetasche nehmen und Tschüss” oder, in den Worten meiner Freundin A., Rosas Mutter, die natürlich Feministin ist: Tschüssikowski.
Stichwort Yoga: Wenn man es genau nimmt, ist das Happy Baby übrigens nichts anderes als ein der ganzen Welt entgegengestrecktes Hinterteil.
