Mini Me, wie die Zeit vergeht…

Konträr zu der Annahme, Tier- und Menschenbabies auf Zeitschriftencovern würden Leute zum Kauf anregen (und das wird, wenn es ans Bebildern geht, kein Scherz, in einigen Redaktionen sehr ernst genommen), besagt eine alte Theaterregel, dass Kinder und Tiere auf einer Bühne nichts verloren haben. Ziemlich radikal also, wenn man wie die niederländische Regisseurin Alexandra Broeder eine Inszenierung ganz ohne Erwachsene besetzt. „Zeit der Wölfe“ ist ein Stück mit Kindern, aber kein Kinderstück. Zehn nach halb acht sind die Türen des Berliner HAUs noch immer geschlossen. Fast unbemerkt schlurft ein Junge im Pierrotkostüm durchs Foyer, aus dem Inneren seines weißen Anzugs plärrt eine schräge Melodie. Woher kommst du kleiner Mann und was nun? Lustig wäre natürlich, wenn dies schon die Aufführung wäre, wenn nichts weiter passierte, als dass dieser kleine Clown seine Kreise zieht. Wie lange es wohl dauern würde, bis die Umstehenden das bemerkten?  Aktionen dieser Art traue ich dem HAU sofort zu (im positiven Sinn, natürlich!); zumal die Stückbeschreibung sehr kryptisch und sehr geheimnisvoll tat („Gemeinsam mit Kindern im Alter zwischen acht und fünfzehn Jahren lässt Alexandra Broeder eine beunruhigende Welt entstehen – ausschließlich für ein erwachsenes Publikum. Mehr wird an dieser Stelle nicht verraten, denn Broeder möchte, dass sich das Publikum auf ihre Welt einlässt und die Kontrolle abgibt, sobald es das Theater betritt. Wer sich das traut, ist herzlich eingeladen, von den Kindern geführt, einen Grenzbereich zwischen Leben und Tod zu betreten.“). Irgendwann gehen doch die Saaltüren auf. Theater.

Der Raum ist dunkel und nebelverhangen. Quer über die Bühne verteilt stehen, liegen, hängen Dinge, verdeckt von Planen, Decken, Überwürfen. Der kleine Pierrot tritt an ein Mikrofon. Er werde bis zehn zählen und uns dann auf eine Reise mitnehmen. Eins, zwei, drei, bei jeder Ziffer entzaubert er die Dinge im Raum, indem er ihnen den Schleier nimmt. Ein Sofa kommt zum Vorschein, eine Pappbühne, eine Schaukel, die vom Bühnenhimmel hängt. Wir schauen auf ein überdimensionales Spielzimmer mit dem Blick der schrumpfenden Alice, die dem Kuchen mit der Aufschrift „Iss mich“ nicht widerstehen kann. Kinder kriechen aus Ecken, fahren auf Dreirädern, schlagen Rad. Auf der Pappbühne steht ein Mädchen, das Fragen aus einem dicken Buch vorliest: Weißt Du noch, wie Du mit gewaschenen und gekämmten Haaren vor dem Schlafengehen noch kurz fernsehen durftest? Weißt Du noch, wie sich Meerwasser auf der Haut anfühlte und dass die Erwachsenen im Urlaub immer so zufrieden waren? Kennst Du noch das Haus, wo ihr Verstecken spieltet und die Frau wohnte, die angeblich Kinder gefangen nahm? Weißt Du noch, wie es sich anfühlte krank zu sein und wie leer die Wohnung war, als die Eltern zur Arbeit gingen? Und wie sie Dir später Micky Maus-Heftchen mitbrachten?

Schönheit und Schrecken trennt nur ein Fragezeichen, die Beerdigung des Opas und die Scheidung der Eltern wechseln mit Bildern von endlosen Sommerabenden, an denen man sich nicht traute, nach Hause aufs Klo zu gehen, aus Angst, dann drinnen bleiben zu müssen. All das wühlt natürlich beharrlich im privaten Bildarchiv des Zuschauers, ein offensichtlicher Trigger, der unsere Erinnerung kitzeln will. Dieser Imperativ zur Introspektive könnte leicht ins Plakative abrutschen, jedoch: Er hat etwas Magisches. Liegt es daran, dass ein Kindermund diese Fragen spricht? Oder an der Stimmung im Raum, die ein dunkles Zimmer evoziert, in dem das Kind wachliegt und nicht schlafen will, weil es sich vor seinen Träumen fürchtet? In der Antwort auf die Fragen schwingt stets ein „Nein, aber…“ mit: Nein, an meinen Lieblingspulli aus Samt erinnere ich mich nicht (denn ich hatte keinen), aber an mein Matrosenkleidchen. Nein, an meinen Geburtstagen habe ich nicht geweint, aber am Abend, weil ich so traurig war, dass ich nun 364 Tage auf den nächsten warten musste.

Die versprochene Reise ist also eine in unsere eigene Kindheit. Vorgeblich leistet das die beeindruckende Bühnenästhetik mit blitzendem Himmel, einem stetigen Dröhnen und den Elementen von Jahrmarkt und Zirkus, ins Morbide verkehrt. Als stärkstes semiotisches Mittel wirken die Kinder, die lebenden Puppen gleich über die Bühne staksen, sich auf Hockern stehend Brautkleider mit meterlangen Röcken überziehen, Abzählreime aufsagen und unter Decken kriechen, bis einer sie findet. Mehr und mehr von ihnen nehmen die Bühne ein, zeitweilig ein ganzer Knabenchor, der mehrstimmige Volkslieder intoniert. Ein anderes Mal singen welche sehr schief und in natürlich unbeholfenem Englisch „We are innocent, we have no fear.“ In manchen Augenblicken droht diese irre Infantie ins Amoralische zu kippen. Darf eine kleine Lolita angewiesen werden, sich im roten Paillettenkleidchen zu räkeln? Warum tragen sie Masken, die aussehen wie Paul Mc Carthys „Penisheads“?

Mindestens so bezwingend wie der Anblick von traurigen Mini-Me’s und kokettierenden Lolitas ist für den Zuschauer jedoch die eigene Introspektion. Natürlich kann ich nur für mich sprechen, aber ich konstatiere, dass Broeders Trigger hervorragend funktionieren und zumindest ich bereitwillig längst vergessene Zustände abrufe, dass mein Mund plötzlich nach der Benjamin Blümchen Geburtstagstorte von Coppenrath und Wiese schmeckt, dass ich die Beklommenheit des abends-alleine-zu-Hause-Seins wieder spüre und den Schmerz des vom Fahrradfahren aufgeschürften Knies.

Warum es dem Stück gelingt, mit recht einfachen Mitteln diese, ich bin versucht zu sagen: Erschütterung im Zuschauer auszulösen? Weil „Zeit der Wölfe“ mit der ollen Theaterregel bricht. Seit jeher ist die Unbedarftheit des Kindes Projektionsfläche für Träumereien, nicht nur die Begründer der Romantik beneideten es um seinen originärsten Wesenszug, die Unfähigkeit zur Selbstreflexion. Kinder nehmen ihre Umwelt wahr, sie fühlen und handeln nach inneren Kriterien, aber vermögen nicht, sich selbst in Frage zu stellen. Wenn Kinder auf einer Bühne stehend Sätze sprechen, die den Erwachsenen im Zuschauerraum an dessen Kindheit erinnern, wirbeln sie die empirischen Ebenen durcheinander wie einen Haufen Mikadostäbchen. Hier das Kind, das doch nur das Kindsein kennt und, anders als der erwachsene Schauspieler, bloßer Resonanzboden für die Vision des Regisseurs ist, dort sein Gegenüber, das mit reflektiertem Blick auf den Teil seines Selbst zurückgeworfen wird, der verschüttet ist von Lebensereignissen, Rückschlägen, Erfahrungen.

Einmal halten die Kleinen mit Affekten betitelte Pappschilder hoch: Dein Zorn. Deine Angst, es nicht richtig zu machen. Dein Eskapismus. Deine Obsessionen. Die Einsamkeit Deines Vaters. Anschließend rezitieren sie einer nach dem anderen Impressionen des gegenwärtigen Zuschauerlebens: Was Du siehst, wenn Du aus Deinem Schlafzimmerfenster siehst. Der Geruch von Frühling. Dein Partner. Die Geschichte, die Du Deinen Kindern vorm Schlafengehen vorliest. Und immer wieder ruft einer dazwischen: Da sein. Da sein. Weil es wahrscheinlich darum geht.

Wenn man klein ist, gibt es keine Zeit? Das stimmt so nicht. Ist es nicht vielmehr so, dass es abgesehen von Peter Pan kein Kind erwarten kann, endlich erwachsen zu werden? Was sehnte die Achtjährige mehr herbei als ihren zehnten Geburtstag? Wollte die Zehnjährige nicht so schnell wie möglich dreizehn sein? Die Fünfzehnjährige sechzehn? Und als sie plötzlich volljährig war und erkannte, dass alles zwar anders, aber nicht unbedingt besser wurde, wieder Kind sein? Am Ende des Stücks steht eine versöhnliche Geste. Das Kind will sich nicht dem Erwachsenen streiten. Es will ihm nicht die Fehler seines Lebens vorhalten, es will ihn nur daran erinnern, wer er früher einmal war. Was bleibt, ist der Appell an den Moment: Sei da! Dann geht das Licht aus und der kleine Pierrot tritt ein letztes Mal ans Mikrofon: „Ich wünsche Ihnen alles Gute auf Ihrem Weg.“ Furchtbar abgegriffenes Wort, leider wahr: Rührung. Die vielen Zuschauer um mich, die stehend applaudieren, stimmen zu.