Der Aufhänger zu diesen gedanklichen Ausschweifungen war zugegeben ein recht banaler. Alle Jahre wieder steht die Rezensentin vor dem Dilemma, das der Winter und die mit ihm einhergehende, je nachdem, wo man diesen verbringt, mehr oder weniger nicht tragbare Kälte mit sich bringt: setzt man sich, nach den verschiedensten Abwegigkeiten wie bauchfreien Shirts bei Minusgraden und Chucks bei dreißig Zentimeter Neuschnee endlich einmal über das nur scheinbar auferlegte (von wem denn?) modische Diktum hinweg und kauft sich endlich endlich einmal einen warmen Wintermantel? Oder lässt man sich wie alle Jahre zuvor mitreißen vom aktuellen Trend zu wasauchimmer? Man lässt. Das heißt, vorerst nicht, denn die erste Einschätzung des Objekts ist alles andere als wohlwollend: haben die bei H&M kein Geld mehr für ordentliche Designer? Beziehungsweise, wer lässt solchen Dilettanten freie Hand? Und wer soll das tragen? Was soll das überhaupt sein? Kein Mantel, warm sowieso nicht und Capes als solche gehören zu den unsinnigsten modischen Erscheinungen. Und sowieso hat man sich geschworen: niemals kamelfarben!
Ein paar Tage später findet man sich dann doch wieder in der, nebenbei bemerkt, zweifellos wunderschönsten Filiale unserer aller Lieblingsschwedenkette, mit Jugenstilaufzug und einem hölzernen Treppenhaus und, wenn die Erinnerung nicht täuscht, Kronleuchtern und schleicht so ein bisschen drum herum um das Objekt und probiert ihn oder es, je nachdem, doch noch einmal an und plötzlich, wunderbarer- und zugleich absurderweise, ist man sich sicher, hier gerade die Entdeckung der Saison gemacht zu haben; den, das absolut formvollendetsten Mantel, Cape, was auch immer, gefunden zu haben. Man bezahlt und denkt nach und kann nicht aufhören, sich zu wundern, wie schmal der Grat ist zwischen grausam und ganz, ganz groß. Und je länger man darüber nachdenkt (und hier wird nun endlich der Bogen geschlagen von einem, wie bereits eingestanden, eher marginalen Thema hin zu etwas hoffentlich Gewichtigerem): sind nicht oft die Dinge die Besten und einem die Liebsten, die sich gefährlich nahe an der Grenze zum Schlimmsten befinden?
In modischer Hinsicht ist Berlin hierfür, wie ich finde, ein ideales Forschungsfeld. Je öfter man übergroße Unisex-Shirts in Kombination mit Leoleggins und Nerdbrillen sieht, desto schöner sieht das aus, bis man geneigt ist, von Ästhetik oder zumindest Stil in Berlin zu sprechen; und eines Tages trägt man neonfarbene Stirnbänder und Ketten mit Süßigkeiten aus Plastik und kann gar nicht verstehen, wieso.
Ein kleiner Sprung zu Christoph Schlingensief. Abgesehen davon, dass er jetzt im Theaterhimmel ist, war er da schon die ganze Zeit, was etwa “Bitte liebt Österreich” beweist oder “Freakstars 3000.” Man schaut sich das an und ist permanent hin-und hergerissen, weil das eigentlich nicht geht, nicht gehen kann, wie er hier geistig behinderte Menschen dermaßen vorführt und ausschlachtet, damit sein eigener Regisseurstern am Theaterhimmel noch heller strahlt, und wie er in “Bitte liebt Österreich” Asylbewerber in einen Container steckt und die Bevölkerung auffordert, per Telefon jeden Tag einen von ihnen abzuschieben. So fühlt man sich dann aber bald ertappt in seinem kleinbürgerlichen, pseudo-moralischen Denken und überdenkt das dann nochmal und kommt zum Entschluss: eigentlich hat er das ganz gut hingekriegt, der Schlingensief, mich auflaufen zu lassen und zurückzuführen zu meinen heimlichen Vorurteilen, denn warum darf man mit Behinderten kein Theater machen? Ist nicht gerade diese Form der Ablehnung eine Reproduktion des Vorbehalts, der eine Teilnahme an der Gesellschaft verhindert? Und was ist im Zusammenhang mit der Integrationsthematik falsch an einem Format à la Big Brother, wenn es die, man ist geneigt zu sagen, faschistischen Strukturen im heutigen Österreich aufzeigen kann? Ganz großes Theater, trotz oder gerade weil es sich so nah an der Grenze zum Trash und moralisch Vertretbaren befindet.
Bevor man sich begrifflich weiter im Ungefähren verliert, mache ich einfach mal den Versuch, dieses Phänomen als Camp zu bezeichnen. Camp: was genau dieser Begriff benennt, ist zu komplex, um hier ausgeführt zu werden. Im theaterwissenschaftlichen Institut der Uni Wien braucht man hierfür immerhin ein ganzes Semester. Die Veranstaltung ist jedenfalls die Sternstunde der Woche. Studiumsbezogene Fragen, die einen im Alltag zum Nachdenken anregen, das ist ja alles andere als eine Selbstverständlichkeit.
Camp: eine Sache mit Ernst und Leidenschaft betreiben, um auf ästhetischer Ebene zu scheitern, aber im positiven Sinne. Leben als Theater, Anziehung und Abstoßung zugleich. Liebe zum Gegenstand, eine Form von Dekadenz und/oder Dandyismus heute. Susan Sontag, von der ich mir den Titel dieses kleinen Essays geliehen habe, was unbedingt erwähnt werden sollte – einerseits, weil das Original unbedingt lesenwert ist, andererseits weiß man ja spätestens seit Hegemann um den Wert des geistigen Eigentums als solches – Susan Sontag also gibt sich sehr bescheiden und versteht ihren Text als Annäherung oder Versuch. Gefällt mir, denn, dass eine ernstzunehmende theoretische Abhandlung kaum am Beispiel einer Winterkollektion von H&M durchgeführt werden kann, versteht sich von selbst.
Dieser Text will nichts. Und rückt den Leser vielleicht gerade dadurch in Richtung der dargestellten Thematik, denn Camp ist auch und vor allem Form vor Inhalt und leidenschaftlicher Ästhetizismus und Freude an Dingen, die sich gefährlich nahe an der Grenze zum Schlimmsten befinden.
Bis zur endgültigen Klärung dieses so spannenden wie komplexen Begriffs trage ich meinen wunderbar-exzentrisches Wasauchimmer und freue mich schon wieder auf ganz viel Stil in Berlin und die Seminarsitzung über Schlingensief und das Leben als Theater.