Oft war ich wahnsinnig wütend

Anzahl der während der Quarantäne getrunkenen Quarantinis: null. Stattdessen kam die Idee mit dem Hund. Dass ich jetzt unbedingt einen haben wollte, hatte mit dem Bore-out zu tun, und vielleicht auch mit all den Neugeborenen, die ich ungelenk im Arm hielt. Nach Lockerung der Kontaktbeschränkungen traf ich mehrere „frisch gebackene“ Eltern in mir bis dahin unbekannten Parks und wunderte mich über diesen Ausdruck, denn das Einzige, was derzeit gebacken wurde, waren ja wohl Sauerteigbrote. All diese Eltern hatten berechtigte Sorgen, in welch seltsame Welt ihre Kinder da hineingeboren wurden. Allen machte ich dasselbe Geschenk: eine mit einem Geist bedruckte Schnabeltasse in geschlechtsneutralem Grau, der Farbe meines Wunschhundes.

Wahnsinn, wie viele Stunden so ein Tag hat. Mir war klar, dass es sich bei meiner Situation um ein Eins-A-allererste-Welt-Problem handelte, dass viele Menschen (Eltern, vor allem Mütter, Supermarktmitarbeitende, Angestellte im Gesundheitssektor, ausnahmslos alle Kinder) auf dem Zahnfleisch gingen, ganz abgesehen von all jenen, die wirklich krank waren (Stand Mitte Mai 2020: Ich kannte keinen). Über Geld konnte ich mich nicht mal beschweren, schließlich hatte es vom Bund eine zwar zu versteuernde, aber trotzdem recht großzügige finanzielle Zuwendung gegeben. Abgesehen davon hatte ich ordentlich zu tun. Ich sammelte Sauerteigbrotrezepte, Kuchenrezepte ohne Hefe und Eisrezepte ohne Eismaschine. Schlimm war die gähnende Leere der Tage, deren Ende ich bereits um 13 Uhr sehnlichst herbeiwünschte. 

Sicher lag das auch an meinem Home-Office-freundlichen Biorhythmus: schlafen gehen um halb elf, aufstehen zwischen sieben und acht. Was tun mit so viel Zeit? Ich ging länger und weiter joggen als je zuvor, was sich prompt in einer entzündeten Achillesferse äußerte. Als Alternative übte ich beim Morgen-Yoga den Skorpion und hörte dabei FM4-Davidecks. Danach meditierte ich mit abwechselnd zugehaltenem Nasenloch. 

Statt mein Fahrrad selbst frühlingsfit zu machen, brachte ich es in den auf Monate hin ausgebuchten Fahrradladen, hinter meiner Blumenprintmaske zerknirscht das Klischee der handwerklich unbegabten Frau erfüllend. Mitte April ging ich mit bösen Vorahnungen Bärlauch sammeln, der hier Berliner Wunderlauch heißt, die Warnungen meiner Mutter über die quasi identischen, hochgiftigen Maiglöckchen im Ohr. Das daraus entstandene Pesto war lecker und völlig ungiftig, allerdings nach wenigen Tagen verschimmelt: Keime, das große Thema dieser seltsamen Zeit. Von der hatte ich dermaßen viel, dass ich dem Basque Burnt Cheesecake beim Schwarzwerden zusah. Ich buk auch XXL Cinnamon Buns, vegane Orangenkuchen, Birnen-Mohn-Kuchen, Mohn-Eierlikörkuchen (Backen mit Alkohol war eine Sache, die ich mir nicht nehmen lassen wollte) und Rhabarber-Mohn-Kuchen, bei dem die einzelnen Rhabarberrauten mit dem Geodreieck portioniert wurden – bis mich der Umstand, dass die meisten Kuchen fast ausschließlich von mir gegessen wurden, so sehr störte, dass ich es bleiben ließ. Stattdessen supportete ich kleine Unternehmen, indem ich acht-Euro-Brandenburg-Burnt-Cheesecake-Stücke kaufte und sie anschließend bei Instagram postete.

Ich fand es seltsam, dass manche Nachbarn jeden Abend um neun klatschten, weil es zwar eine schöne, aber doch reichlich hohle Geste war. Ich ging spazieren und stellte mir vor, wie es wäre, einen Hund zu haben. Dabei telefonierte ich mit Facebook-Freunden, von denen ich monatelang nichts gehört hatte. Meistens waren diese Anrufe exakt terminiert, weil es eine Illusion ist zu glauben, Menschen seien spontan, bloß weil sie plötzlich mehr Zeit haben. Ich nahm weder an „House Partys“ teil noch an Zoom-Meetings. 

Oft war ich wahnsinnig wütend. Auf den feministischen Backlash und die dreifache Anforderung an so viele Frauen – Haushalt, Home Office, Kindererziehung – die einfach so vorausgesetzt wurde. Auf dieses asoziale Virus, das die Existenz vieler meiner freiberuflichen Freunde bedrohte und die sämtlicher Lieblingsrestaurants. Darauf, dass ich meine Eltern nicht sehen konnte. Und manchmal auch auf mich, weil ich so wenig abstrakte Empathie aufbringen konnte für eine fiktive Zahl potentieller Risikogruppenzugehöriger. 

Entgegen des allgemeinen Trends streamte ich nicht mehr als zuvor, zumal ich aus Protest – gegen eine allgemeine, soziale Bindungen zerstörende Binge-Watching-Kultur, ich weiß, es ist lächerlich – mal wieder mein Netflixabo gekündigt hatte. Einige Serien gefielen mir dann doch ganz gut, „4 Blocks“ zum Beispiel oder „Jerks“, wobei ich immer auf meine selbstauferlegten Regeln achtete, die besagten „maximal drei Folgen an einem Tag“ und „nie beginnen, solange es draußen hell ist“. Lieber hörte ich bei meinen hundelosen Spaziergängen „Nochmal Deutschboden“ als Hörbuch, und lachte dabei gelegentlich laut auf, worüber sich in nun wirklich Berlin niemand wundert. 

Viel Zeit und gedanklichen Raum nahm die Hundeidee ein. Stundenlang durchstöberte ich Windhundeforen, googelte „Whippet Fahrradfahren“. Dass es eine Post-Coronazeit geben würde, in der ich wieder mehr zu tun hätte und reisen würde, schien mir völlig unvorstellbar.

Ich shoppte, erst online, später dann auch im sogenannten stationären Einzelhandel. Keine Hundeleinen, sondern Bücher über Feminismus und Alkohol, oft in Kombination, hauptsächlich aber Fashion, denn dass man irgendwann mal wieder das Haus in etwas anderem als Leggins verlassen würde, war mir dann doch klar. Ich lachte über ein Meme, das einen Typen in einer Art Papstgewand zeigte, mit Bischofsstab und angeleintem Mini-Drachen, dazu die Überschrift Me coming out of Lockdown with all the stupid shit I ordered online – wohl wissend, dass ich mitgemeint war.

Ich kaufte mir eine wahnsinnig teure Outdoor-Jacke, wegen der Wind-und-Wetter-Spaziergänge, die ich mit meinem zukünftigen Hund würde führen müssen. Ich kaufte mir keine neuen Laufschuhe, aus Angst, meine Achillessehne für immer ruiniert zu haben. Auch keine Designermasken eines kleinen Berliner Labels, aus der trotzigen Überzeugung heraus, dass sie bald unnötig sein würden. Stattdessen shoppte ich eine Hose bei H&M, die weniger kostete, als ich noch vor Kurzem für zwei Gläser Wein ausgegeben hätte, und schämte mich sehr, weil es mit der Fast Fashion doch jetzt wirklich vorbei war. Als nächstes kaufte ich mir eine Handtasche, halb so teuer wie ein Welpe, in die nichts hineinpasste, schließlich hatte ich auf meinen ziellosen Quarantäne-Spaziergängen doch nie mehr gebraucht als Taschentücher, EarPods und iPhone, und war jetzt nicht sowieso das Zeitalter des bargeldlosen Bezahlens angebrochen? Jeder Kauf, und das war das Beängstigende daran, zog auf magische Weise den nächsten nach sich. Was, bitteschön, war denn nun schon wieder das Problem: Ich verdiente Geld, das, Stichwort Wirtschaft-Ankurbeln, auszugeben quasi Bürgerpflicht war, und hätte zufrieden sein können. Stattdessen wollte ich mehr und haderte damit und gab Dinge zurück und bestellte stattdessen neue und dachte verhältnismäßig wenig nach über die Männer (es waren komischerweise immer Männer), die meine Pakete kontaktlos in den vierten Stock trugen.

Einmal meldete ich mich auf einer Plattform an, die freiwillige Helfer mit Bedürftigen verband, das konnte alles sein von Einkäufe erledigen bis hin zu einfachen Handwerkstätigkeiten (dabei hatte doch schon die Fahrradaktion gezeigt, dass ich dazu nicht fähig war), aber es meldete sich nie jemand. Auch nicht bei Pets4Friends, wo ich mich als Hundesitterin anbot, nicht kontakt- aber kostenlos. Als eine Nachbarin in Begleitung ihres zauberhaften Mini-Collies ihr Paket bei mir abholte, bot ich ihr an, mal mit Paul (Obacht: Haustiernamen sind die neuen Kindernamen) Gassi zu gehen, aber auch sie meldete sich nie. 

Eines Tages ließ ich mich bei einem schrecklich empathielosen Arzt auf eine befürchtete Hundeallergie testen – seiner Meinung nach eine das Gesundheitssystem unnötig belastende Kassenleistung –, der fand, ich solle mir die Hundeidee doch einfach aus dem Kopf schlagen. Auf meinen Einwand, es handle sich um einen Herzenswunsch, entgegnete er: „Dann gehen Sie doch zum Psychologen.“ Meine kürzlich Mutter gewordene Freundin P. fragte sich, ob der Arzt (alt, weiß) mit einem männlichen Patienten ebenso herablassend umgegangen wäre, und riet dazu, eine wütende Google-Bewertung zu hinterlassen. 

Ich schüttelte den Kopf über den mittelalten, weißen Mann Attila Hildmann. Ich sah mir keine Sauerteigbrotvideos bei Instagram an, sondern “Shining”, und sah eine klaglos alle Care-Arbeit übernehmende Frau und einen alkoholabhängigen Mann, der in der self-isolation durchdreht und schließlich daran zugrunde geht. Dann dachte ich nach, über Babys und Welpen, und in welche Welt sie hineingeboren wurden. Während der ganzen Zeit trank ich überhaupt keinen Alkohol.