Wenn etwas zweimal in Folge geschieht, nennen wir es Tradition. Hier also Eva Perlas traditioneller Beitrag zum bevorstehenden Weihnachtsfest:
Mit vorbildlich deutscher Pünktlichkeit überrascht der Berliner Himmel die Menschen unter ihm mit Schnee und Temperaturen um den Gefrierpunkt. Kalt genug, damit man mehr vom Schnee hat als Matsch und Drecklachen, mild genug, um raus zu gehen, auf den Weihnachtsmarkt zum Beispiel. Während jene am Alexanderplatz oder Ku’damm nicht gerade durch eine Liebe zum Detail punkten, verstecken sich zwischen den Touri-Bespaßungshöllen solche Perlen wie der Schwedische Weihnachtsbasar Wilmersdorf (selbstgemachte Prinzessinnentörtchen und Zimtschnecken; blonde Mädchen mit Lichterkränzen auf dem Kopf; Elchsbratwurst), der Kreuzberger “Naschmarkt” (Kuchen, Plätzchen, Stollen, Lebkuchenhäuser, essbare Blüten, Macarons mit Chai Latte-Geschmack ) und der Weihnachtsmarkt in Alt-Rixdorf, wenn man so will: im Herzen Neuköllns, wo der Glühwein 1.50 € kostet und der Mistelzweig 2 € und wo einen pausbäckige Jungs mit Migrationshintergrund um 1,20 € anhauen beziehungsweise ein Butterkekshäuschen verkaufen wollen – weil neunzehn Schüler ihrer Klasse nicht genug Geld für den Schulausflug haben. Welcome to Problemkiez.
Es ist glücklicherweise die Zeit der Wintereditionen: Bratapfeljoghurt, Spekulatiuseis, Walnussbrot, “Milchmädchenmalzeit” in den Geschmacksrichtungen Zimt und Apfelstrudel. Dann das stetig anwachsende Glühwein- und Punschsortiment der Supermärkte: Weißer Glühwein, roter Glühwein, Grog (nicht zu verwechseln mit Glögg), “Großmutters Sahnepunsch”, Jagertee, Feuerzangenbowle. Letztere mache ich immer noch am Liebsten selbst: Wenn man es schafft, dabei weder Küchenlampe, noch Mittrinkende in Brand zu setzen, ein herrlich geselliger Spaß.
Vorweihnachtszeit! Aus allen Ecken, auch aus den muffigsten, weht einen der festliche Imperativ an. Unseren geschätzten 24-Stunden-KAISERS ziert eine illuminierte Plastiktanne mit künstlichem Schnee (man hätte auch den echten abwarten können). Jeder Bahnschalter, Postschalter, Verkaufstresen hat sich heraus geputzt und selbst die Penner, die tagein, tagaus vorbeieilenden Passanten ihren Pappbecher entgegenstrecken, haben neben der Schnapsflasche eine rote Kugel platziert oder tragen eine Nikolausmütze. Frühabends rollen einem auf der Modersohnbrücke Pferdekutschen mit stilisierten Eiszapfen entgegen. Selbst der Dienstleistungssektor gibt sich wegen der besinnlichen Adventszeit außergewöhnliche Mühe: Der Gynäkologe greift in den Plastikbecher mit den folierten Schokoweihnachtsmännern; der Friseur überreicht ein Säckchen mit einem Minishampoo mit Einhornmotiv so feierlich wie er zuvor auf den gigantisch schön geschmückten Tannenbaum im Hinterzimmer neben dem brennenden (!) Kamin hinwies (da, wo die Haare gewaschen werden) – und mit Bedauern muss ich gestehen, dass dieser Tannenbaum den bei mir zuhause um Längen schlägt. Sollte mich meine Mitbewohnerin fragen, wie alt ich sei, weil ich meckere, dass mir dieses Jahr weder meine Oma, noch meine Mama ein Paket zum Nikolaus geschickt haben (darin zum Beispiel: Selbstgebackene Plätzchen, Taschenwärmer in Herzform und meinetwegen auch selbstgestrickte Socken), werde ich antworten: “In Weihnachtsangelegenheiten sieben Jahre.”
Wie traurig, bedrückend stimmen mich jene Weihnachtsmuffel, die so pünktlich wie dieses Jahr der erste Schnee fiel über den Terror des Weihnachtsfestes schimpfen, der ja ein Konsumterror sei. Aufgepasst! In Wahrheit geht es gar nicht um innere Ruhe, Nächstenliebe, das Leuchten in den Augen der Kinder und kindischen Erwachsenen, sondern um den Absatz von eigens fürs Fest konzipierte Ramschware, um literweisen Glühweinkonsum (warum nicht?), um entartete Betriebsweihnachtsfeiern und schließlich um den finalen Familienkrieg am Heiligen Abend, wo einem Bräter samt Gänsen um die Ohren fliegen.
All jenen Weihnachtsgrummlern empfehle ich einen Besuch im Zollamt Schöneberg.
Es begab sich nämlich vor kurzer Zeit, dass ich verfehlten Geschenken zuvorkam und mir einen meiner vielen Herzenswünsche selbst erfüllte: Ich importierte eine iPhone Hülle aus den USA. Nach wochenlanger Wartezeit – zwischenzeitlich hatte ich schon wieder vergessen, worauf ich eigentlich wartete, jedenfalls bis die Kreditkartenabrechnung ins Haus flatterte – empfing ich statt eines Päckchens eine Vorladung zum Zollamt. Schon der Weg dorthin erwies sich als gar weit und beschwerlich. Erst nachdem ich drei Mal daran vorbeigelaufen war, weil das Zollamt Schöneberg nämlich eines jener unfassbar hässlichen Gebäude ist (und in seiner Hässlichkeit ohne jeden Wiedererkennungswert), das völlig mit seiner Umgebung verschmilzt, fand ich den Eingang. Drinnen reihte ich mich ein in die Warteschlange für die Wartenummer. In einiger Entfernung versank ein Zollbeamter in seinem Drehstuhl und schien, ganz ähnlich dem Gebäude, mit der altpapiergrauen Wand hinter sich zu verschmelzen. Um mich her Szenen der Verzweifelung: Hinten keifte eine Mutter ihre pubertierende Tochter an: “Kannst Du Deinen Mantel nicht wie andere Leute im Laden kaufen? Immer eine Extrawurst? Das machst Du nie wieder! Nie wieder!” Vorne drucksten drei postpubertäre US-Amerikaner herum; offensichtlich erwarteten sie ein Paket mit Tabak und offensichtlich sprachen sie kein Wort Deutsch und ziemlich sicher konnte der altpapiergraue Zollbeamte kein Englisch.
Als ich dem altpapiergrauen Zollbeamten entgegen trat, wehte mich eine gar unweihnachtliche Stimmung an. Lediglich die verlängerten Öffnungszeiten (ab 1. Dezember bis 21.00 Uhr) ließen eine gewisse Bereitschaft zur Nächstenliebe vermuten. Noch immer wusste ich nicht, was diese sogenannte Institution von mir wollte. Welchen Teil meiner Identität glaubten sie mir nicht? Es war doch offensichtlich, dass ich meine Bestellung bezahlt hatte. Wofür wurde ich hier bestraft? Dafür, dass ich die US-amerikansiche Wirtschaft ankurbelte anstatt die deutsche? Der altpapiergraue Zollbeamte konnte oder wollte mir nicht Rede und Antwort stehen, stattdessen wies er in Richtung der schon von Weitem schrecklich unbequem wirkenden Plastikstühle.
Da saß ich. Unruhig ein Bein über das andere schlagend, mit den Füßen wippend, ab und an halblaut stöhnend. Ein Pärchen, das, ich kann es nicht anders ausdrücken, schwer nach Unterschicht aussah, gab sich große Mühe, alle Anwesenden zu unterhalten: Sie, indem sie ihr Smartphone heftig schüttelte und mit raumgreifenden Bewegungen um sich ruderte; er, indem er abwechselnd ihre Spielzüge kommentierte und befand, dass der Mensch ja nur eine Nummer sei (“Hier sieht man es: Jeder Mensch ist doch bloß eine Nummer!”). Ich seufzte. Ich wand mich, widmete mich dann der Lektüre des Seminartextes über den hundsgemeinen Kapitalismus, dessen neueste Perfidie das iPhone ist – kein Scherz, wortwörtlich stand in meinem Seminartext, das iPhone schaffe wie kein anderes kapitalistisches Produkt Bedürfnisse, die man vorher nicht hatte. In meinem Fall: Die Illusion, eine iPhone Hülle aus den USA importieren zu müssen. Und so kam es, dass ich dort, an diesem urdeutschen, weil so durch und durch bürokratischen Ort, an dem einem zuverlässig jegliche weihnachtliche Stimmung ausgetrieben wird, zur Besinnung kam.
Als meine Nummer nach über zwei Stunden an der Reihe war, passierte ich die schwere Tür, überreichte dem Zollbeamten hinter Schalter 4 (der sehr jung war und ein Band-T-Shirt trug!) meine Personalien, setzte meine Unterschrift unter etwas, ging zum Kassenschalter, entrichtete die Mehrwertsteuer (6,67 €), nahm drei DIN A4 Blätter entgegen (für den Haushaltsordner!), ging zurück zu Schalter 4 und bekam meine iPhone Hülle in die Hand gedrückt. Dann fuhr ich nach Hause und buk Lebkuchen.
Nachtrag: Zwei Tage vor Weihnachten brachte mir die Postbotin ein Paket. Es kam von meiner Familie in Norwegen. Auch hier hatte der Zoll seine Finger im Spiel: Neben dem Vermerk “Zollamtlich abgefertigt” stand unglaublicherweise, was in dem Päckchen drin war: “Skarf (Schal).” Nicht einmal die Freude des unwissenden Auspackens ist mir gegönnt.