Perversion 2.0

Das Internet hält ja die ein oder andere Abartigkeit für uns bereit. Spontan fallen mir da neben sämtlichen Facebook- Zeitfresser- Optionen („Glücksnuss“, „Welcher Berliner Stadtteil bist du?“, „Was denkst du über…?“ und ganz besonders „Farmville“) sinnlose Foren („Was tun gegen Winterspeck?“) und pseudo-informative Lexika („Drogenwiki“) ein, ganz abgesehen von gruseligenZukunftsprognosen wie dem Gesichtserkennungsprogramm von Google.

Ganz oben auf meiner Liste der Internetperversionen steht aber neuerdings „Chatroulette“. Das Prinzip ist simpel: Voraussetzung ist ein internetfähiger PC mit Webcam (heute in gefühlten 90% aller deutschen Kinderzimmer zu finden); nachdem man mit einem Klick sein Okay zu irgendwas (Datenklau?) gegeben hat, erscheinen zwei Fenster auf dem Monitor. Im unteren sieht man sich selbst (uuuhhh, Bad Hair Day), im oberen eine durch Zufallsprinzip ausgewählte Person. Mit dieser kann man sich nun wahlweise Textnachrichten hin- und herschicken oder sprechen. Hinzuzufügen ist, dass 80% aller Textnachrichten mit „where from?“ beginnen und, ja, dass Geräusche zu hören sind. Zum Spielprinzip gehört, dass unliebsame Chatpartner „genextet“, das heißt weggeklickt werden. Unliebsam weswegen? Spätestens hier öffnet sich das Problemfeld von Chatroulette. Da niemand behaupten wird, das Innenleben eines Menschen durch eine Webcam hindurch beurteilen zu können, liegt es auf der Hand, dass hier ausschließlich die Physiognomie des Gegenübers ins Gewicht fällt. Adipöse, schwitzende Mexikanerin? Next. Bleicher Engländer mit Hautproblem? Next. Schweizerin mit Knollennase und „I love Zürich“ Shirt? Next. Ich will nicht behaupten, dass Aussehen in der realen Welt keine Rolle spielt. Gut möglich, dass ich mich im Supermarkt auch nicht in ein Gespräch mit der dicken Mexikanerin verwickeln lassen würde. Trotzdem ist die Situation hier dadurch zugespitzt, dass mich und mein Gegenüber im Extremfall tausende von Kilometern trennen. Und, dadurch, dass wir uns mit hoher Wahrscheinlichkeit nie wieder, auch nicht virtuell, begegnen werden, da dies das Zufallsprinzip des Spiels verhindert. Wie viele „Gespräche“ überschreiten unter diesen Umständen wohl eine Zeitspanne von, sagen wir, fünf Minuten?

Über all das könnte ich in Anbetracht eines hin und wieder lustigen Zeitvertreibs („We’re from Jamaica“) hinwegsehen. Die eigentlich fragwürdige Komponente besteht für mich aber in der Tatsache, dass etwa nach jedem zehnten Durchgang ein Genital zu sehen ist, in der Regel ein männliches. Willkommen auf der Spielwiese der pädophilen, exhibitionistischen, sodomistischen, sonst- wie- abartigen Neigungen. Wie hot ist es bitte für einen, sagen wir, Mann mit exhibitionistischem Trieb, auf dem Monitor kreischende Dreizehnjährige zu sehen, die sich entsetzt die Hand vor den Mund halten? Und um wie viel einfacher sich in der virtuellen Welt auszutoben als, sagen wir, die Hose im Park runterzulassen?

Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Wie wäre es mit dem Still eines Sargs mit frischen Blumen davor? Oder mit einer nackten Frau, die an einem Strick in der Ecke baumelt? Und was hilft es, sich zu versichern, dass es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um Fakes handelt?

Google schaltet und waltet und provoziert Monopolwächter und Stammtischdiskussionen. Im Verborgenen aber, da, wohin das wachsame Auge der staatlichen Aufsichtsbehörde bis dato nicht reicht, gedeiht eine neue Generation der virtuellen Perversion. Big Brother is watching you!