Für jede Sehnsucht die passende App. Wer wundert sich noch, dass sich im Store eine mit dem sprechenden Namen Hipstamatic findet, die ganz gegenwärtige Bilder mit wenigen Klicks wirken lässt, als liege ihr Entstehungszeitpunkt Jahrzehnte zurück. Sepia lautet das Zauberwort, das, so scheint es, ein Stück weit das utopische Versprechen der Nostalgie einzulösen vermag. Der Trend hin zu Vintage ist ja schon ein alter Hase: Welche Mutter schlägt noch die Hände über dem Kopf zusammen, wenn ihre Tochter deren eigene Garderobe von vor, sagen wir, dreißig Jahren aufträgt? Keine, weil Stöbern auf Flohmärkten genau so salonfähig geworden ist wie Retrokleidung aus dem Netz, sodass sich niemand mehr fragt, warum Karlotta aus Bielefeld auf ihrem Fashionblog aussieht, als habe sie gerade ihr letztes Taschengeld auf dem Mauerpark ausgegeben. (Vintage macht ja als Bezeichnung fast so viel her wie Stylist’s own und wertet ganz prima den üblichen H&M, Mango, ZARA-Aufwasch auf). Retromanie, allüberall. Eine Frage der Zeit, bis sie den Pop infiziert.
Für jede Sehnsucht der passende Soundtrack. Lana Del Rey schwimmt ganz oben auf der Retro-Welle und den Rest besorgt ihre völlig undurchsichtige Biografie (Trailerpark-Gör, Chalet-Bewohnerin, Dirty Diva?). Medien, weltweit, von seriös bis abgeklatscht, überschlagen sich beinahe vor Aufregung und werfen mit Begriffen wie “Retro-Königin” und “Pop-Sensation” um sich. Ich zähle in einer Woche allein zwei Artikel im Feuilleton der Süddeutschen, einen in der ZEIT, daneben Beiträge in Blogs, Foren, Kulturabhandlungen, ganz abgesehen davon, dass mir ihr hübsches Konterfei von Plakaten, Werbetafeln, Zeitschriftencovern entgegenschmachtet. Keine Frage: Ihre erste Single Videogames ist eine gelungene Sache. Solides Handwerk, wenn ich mir als Musiklaie anmaßen darf, das zu sagen, eingängige Melodie und Lanas Stimme besteht aus genau den richtigen Anteilen von lasziv, larmoyant und liederlich (im eigentlichen Sinn). Tom Waits in feminin sozusagen; das klingt nach rauchigem Whiskey und vielen, vielen Sehnsuchtsseufzern. Man nimmt ihr jede ihrer Gefühlsaufwallungen ab. Eigentlich. Denn der erste Wermutstropfen kommt in Form der Meldung daher, Del Reys musikalische Karriere stecke nun nicht gerade in den Kinderschuhen, denn sie habe bereits 2008 ein Album veröffentlicht, das dann aber wieder zurückgezogen worden sei, um “etwas Neues, Frisches zu gewinnen”, sprich: Eine neue Identität zu kreieren. Besagte Kinderschuhe wurden also längst gegen damenhafte Pumps getauscht, mit denen Lana stilsicher und sehr organisiert der großen Karriere entgegenstöckelt.
Es ist also gar nicht so sehr die Pflege eines Pflänzchens mit Namen Nostalgie, die hier aufstoßt, sondern vielmehr die allzu offensichtliche Konstruktion einer Künstleridentität. Vergangenheitspathos hat es immer schon gegeben (erschöpfend dieser Tage in sämtlichen Feuilletons diskutiert und in Simon Reynolds “Retromania” belegt: Pop war nie ein Kind des Zeitgeistes, sondern eine raffinierte Form des massentauglichem Eklektizismus und hat sich damals wie heute vergangener Stile bedient), neu ist die Aufgabe des Wahrheitsanspruches. Und diese Aufgabe ist, natürlich, ganz Kind unserer Zeit, wenn man bedenkt, wie einstimmig die Hymne auf die postmoderne Auflösung der Identitäten angestimmt wird. Umso erstaunlicher, dass ein Großteil der Hörer (und im Fall von Lana: Der Seher) das nicht zu bemerken scheint. Die Inszenierungsstrategien der jungen Frau, die auf den doch irgendwie nach White Trash klingenden Namen Lizzy Grant hört, werden meist nur in Nebensätzen erwähnt, in den Haupsätzen ist dann die Rede von ihrer Unverwechselbarkeit, ihrer Fähigkeit zu berühren, zu erschüttern. “Die Blogsphäre bejubelt sie als Gegenentwurf zu Kunstfiguren wie Lady Gaga”, ist da in der Süddeutschen zu lesen. Und tatsächlich kann man aus vielen Kommentaren im Netz herauslesen, dass das Publikum allzu gerne bereit ist, sich vom schönen Schein blenden zu lassen: “Ob die Gute im Trailer Park oder der Upper East Side aufgewachsen ist, ist mir relativ egal, die Musik gefällt mir überraschenderweise sehr.” Muss man da nicht fragen: Wie viel Authentizität verträgt Pop? Oder anders gesagt: Wann verhindert kritische Reflexion aufrichtige Empfindung?
Es ist doch wie mit der Hipstamatic App: Bilder werden nicht unbedingt besser, nur weil ein Grauschleier oder Sepia darüber gelegt wird, wie eben auch ein gut gemachtes Video (in Handarbeit, nämlich mit Hilfe von iMovie, wie Lizzy kokett betont) nicht automatisch durch Vergangenheitspathos brilliert. Dass Videogames funktioniert, will ich nicht bestreiten, weil die schönen Bilder ein Wohlgefühl in Form ästhetischer Befriedigung auszulösen imstande sind; dass eine Inszenierung vom Ausmaß der divenhaften Grazie Lana eine Künstlerpersönlichkeit über mehr als ein paar Singles trägt schon. Vor allem aber: Dass zu offensichtlich ausgestellte Gemachtheit, ein Zuviel an manipulativen Strategien selbst für das vergleichsweise abgeklärte Gemüt des netzaffinen, medienversierten Gegenwartsmenschen einhergeht mit dem Verlust der Identifikation auf emotionaler Ebene. Kurz: Ein Produkt, das nicht im Entferntesten darauf besteht, seine eigene Authentizität zu behaupten, wird im reflektierten Konsument auch kein authentisches Gefühl auslösen. Wer meint, von Kunstprodukten respektive Bastelidentitäten a là Lana Del Rey “im Innersten erschüttert zu werden”, hat, so wage ich zu behaupten, die dahinterliegenden Mechanismen nicht durchschaut.
Soll man nun jede Empfindung als vom bösen Kapital (in diesem Fall: Der gerissenen Plattenindustrie) kommend verdächtigen? Darf man nicht einfach etwas “schön” finden, ohne dessen Metaebene zu durchwühlen? Man darf. Solange eine irgendwie geartete Form von Bewusstsein, das heißt aktiver kritischer Reflektion stattfindet. Wie es auch völlig legitim ist, eine gute Zeit mit Hipstamatic zu haben, solange man nicht glaubt, die Fotos stammten von Omas Dachboden. Im Spiegel heißt das dann: “Bitte recht retro.” Die Kollektivnostalgie, jaja, der huldigen wir alle ab und an. Hoffen wir, dass bei all der eklektizistischen Popperei die Authentizität nicht auf der Strecke bleibt. In Zukunft also besser: “Bitte recht authentisch.” Echte Gefühle sind schließlich zeitlos.