Es soll ja Leute geben, die mit der „Random App“ den Alltag meistern. Hierbei handelt es sich um ein recht simples Smartphoneprogramm, das auf einem Zufallsmechanismus basiert: Man legt die Zahl der Möglichkeiten fest, schüttelt das Gerät, woraufhin ein Geräusch purzelnder Würfel ertönt (das ist die schönste, weil haptischste Komponente!) und schon hat das System eine Entscheidung getroffen: Alea iacta est, die Würfel sind gefallen. Die „Random App“ löst die kleinen und großen Lebensfragen: Wohin zum Lunch? Welcher Bank sein Erspartes anvertrauen? Ist Paul der Richtige? Oder: Wer ist eigentlich Paul? Alles, worum wir uns kümmern müssen, ist die Stromversorgung unserer Wundermaschine.
Luise Voigt, 1985 geborene Regisseurin, Videokünstlerin und Absolventin der Angewandten Theaterwissenschaft in Gießen, umkreist in „Ausbrennen – Songs von der Selbstverwertung oder Melodien für den Feierabend“ den kritischen, da medial überstrapazierten Topos der Überforderung auf. „Viele Menschen halten das Krankheitsbild Burnout in ihrer mittelbaren oder unmittelbaren Umgebung für nicht unwahrscheinlich.“ Der Schauspieler hat gesprochen; jaja, seufzen wir, wissen wir doch. Individualitätszwang, Kreativdiktat, Fitnesswahn geißeln das moderne Subjekt. Ach! Warum also nicht dem Smartphone, das uns doch sowieso besser kennt als jedes analoge Gegenüber, die absolute Deutungshoheit überlassen? Außer der Einbindung von Siri, dieser guten Seele des Apple-Kosmos, ist diese technische Innovation anno 2012 fast schon ein alter Hut. Glücklicherweise ist das, was Luise Voigt sonst noch zur kollektiven Überforderung zu sagen hat, neu, komisch, leider wahr. Etwa, dass unsere Vorfahren in der Steinzeit lediglich vier Stunden am Tag mit der Jagd, Nahrungsaufnahme und Befriedigung der körperlichen Bedürfnisse verbracht haben. Ihre verbleibende Zeit widmeten sie Riten, der Gemeinschaft und: dem Nichts. Dieses Nichts war Voraussetzung für alles, was danach kam. In einer radikalen Lesart gäbe es ohne die sinnfreie Muße der Neandertaler kein elektrisches Licht, kein Telefon, kein WLAN. Hat hier etwa jemand Ulrich Schnabel und sein Buch „Muße – Vom Glück des Nichtstuns“ plagiiert? Auch das ist eine Hymne auf die absichtsvolle Zeitverschwendung, gleich wie Sascha Lobo und seine Prokrastinationstheorie. Ohne Auszeit keine Produktion, ohne Seele baumeln keine Kreativität. Okay, verstanden. Wie aber lässt sich das „Seele baumeln“ effizient in den streng getakteten Alltag integrieren?
Doch nicht etwa durch die schrittweise extrinsische Anleitung zur Kontemplation? Durch einen Schauspieler, der mit hessischem Akzent Lebensweisheiten säuselt, die wahlweise nach Frauenmagazin oder Hilfe zur Selbsthilfe klingen? Dessen fünfter und letzter Schritt ist überschrieben mit „Neuland.“ Wo liegt dieses „Neuland“? Werde ich es erkennen, wenn ich angekommen bin? Und was wird damit umschrieben? Freiheit wohl kaum, denn die, so lernen wir, ist der Anfang allen Übels; gerade die völlige Wahlfreiheit schafft den Wahlzwang, das ist sogar wissenschaftlich bewiesen. Ein bisschen mehr Unfreiheit täte dem gequälten Subjekt ganz gut.
Streckenweise ermüdet „Ausbrennen“ durch einen allzu didaktischen rhetorischen Zeigefinger; dafür tummelten sich in der letzten Zeit wirklich zu viele mit abgebrannten Streichhölzern illustrierte Titelgeschichten in der deutschsprachigen Medienlandschaft. Abgesehen davon aber ist man nicht nur bestens unterhalten von a-capella Chören, die klingen wie aus dem Grammophon, von Rechnerpop à la „Deichkind“ und bösen Abzählreimen, sondern fühlt sich zugleich auf kaltem Fuß erwischt sozusagen: Weil es sich leider doch ganz genau so anfühlt, das eigene Wahnsinnsleben. Weil man doch in diesem Moment bereut, sein Handy auf lautlos statt auf Vibration geschalten zu haben, denn vielleicht erreicht einen jetzt, in diesem Moment, der alles entscheidende Anruf! Unglücklicherweise sind ja auch alle verdammten Signaltöne normiert – man kennt das von den öffentlichen Verkehrsmitteln, wenn in Hörweite der iPhone-Dreiklang ertönt und man selbst inklusive fünf weiterer Personen um einen herum in halb-automatsicher Erregung in die Hosentasche greifen. Damit nicht genug, dudelt permanent auf der Bühne ein Warnton, der eine Email, einen eingehenden Skypeanruf, oder eine What’s App-Nachricht markiert und einen die eigene Unerreichbarkeit umso schmerzlicher spüren lässt.
Mitspieler, die wahlweise als Ritalin („Potential ausschöpfen!“) oder Valium („Lehn Dich an meine Schulter!“) missbraucht werden, Telefondating mit folgenlosem Ausgang, neunzig Sekunden Ruhm für den blassen Arbeitnehmer, der glaubt, sich mit seinem Sternzeichen profilieren zu können – weiß man da nicht längst Bescheid? Ist „Ausbrennen“ just another capitalism critic? Nicht ganz. Insbesondere die surrealen Einschübe trösten über etwaige pädagogische Längen und lahmes Couchgeflüster hinweg. Thums up für den Einfall, einen der Schauspieler mit einer Gorilla-Maske unterm Hoodie vors Publikum treten zu lassen. Zu Beginn des Stücks erzählt er mit verzerrter Stimme von seinen nächtlichen Streifzügen, auf denen er „,Menschenkindern“ die Gliedmaßen ausreißt und zuschaut, wie die Bewohner der Stadt wie Herbstlaub von den Bäumen fallen. Die Lautsprecher um ihn herum werden dabei zu Hochhaussilhouetten, deren Morsesignale ungelesen im stockdunklen Raum verhallen. Ist es der Burnout selbst, der zu uns spricht, der als Affenmensch verkleidet Grimassen schneidet? Wenn ja, ist er ziemlich leicht zu überlisten: Mithilfe eines Mini-Modellflugzeuges, das wie eine träge Hummel herumschwirrt und das Affenvieh zu Tränen rührt, als es ihm unter den Händen zerbricht. Gut, dass die Übrigen flugs von ihren workspaces aufspringen und sich mit free hugs solidarisch zeigen. Ein letztes Mal bläst das Minikeyboard zum finalen Abgesang auf den Effizienzzwang. Die Arbeit läuft nicht weg, die Sänger schon. Zurück bleibt eine leere Bühne. Und gefühlt zwanzig ungelesene Nachrichten auf dem eigenen Handy.