Vielleicht wird die Frage irgendwann lauten: Was war die Postmoderne? Ein schmutziges, weil fraglos überstrapaziertes Wort, dessen Kern (so es denn einen gab) längst ausgehöhlt ist, zugunsten einer in alle Richtungen offenen Bedeutungspotenz. In Anlehnung an „Black or White“, einer Produktion des Theaters Bremen, aufgeführt beim “Freischwimmer”-Festival in den Sophiensaelen von und mit Alexander-Maximilian Giesche und Lina Hermsdorf, könnte die Antwort lauten: Niemand weiß so genau, was die Postmoderne charakterisiert, aber jeder erkennt sie, wenn er sie sieht.
Ein Mann und eine Frau bewegen sich durch einen halboffenen weißen Kubus. Ihre Kleidung ist unübersehbar ein Ausdruck ihrer Fähigkeit zur Ironie beziehungsweise zum Zitat: Schwarze Jeans, er mit verwaschenem T-Shirt mit – Achtung, 80er Jahre Referenz! – Wolfsmotiv, sie in neonpinken Nike-Sneakern. Beide tragen dunkle Motorradhelme und wenn sie sprechen, sind ihre Stimmen mickymaushaft verzerrt. Zwischen ihnen dreht ein Ventilator unaufhörlich seine Runden und ein Strauß Luftballons schwebt am Bühnenhimmel, ähnlich dem, den man als Kind auf dem Rummel kaufen wollte, weil man hoffte, mit ihm an der Hand davon zu fliegen. Sonst ist der Raum leer.
Alles, was zwischen ihnen steht, beansprucht dieselbe Relevanz. Die Aufzählung der in der letzten Nacht konsumierten Getränke (Whiskey, Wodka, zu viele Gin Tonics) ebenso wie das Flugzeug, das in die Europäische Zentralbank fliegt (sich aber völlig wertfrei als optische Täuschung erweist); die Überlegungen zur Ausdehnung der Zeit im Raum, vergleichbar einem Sprinter und seinem Lauf zum Ziel, wie der Besuch des Botanischen Gartens, des japanischen Teehauses und dem lateinische Namen des Zitronenfalters, einst gelernt, nun vergessen. Was sich im Dialog der Beiden abzeichnet, setzt sich auf der Bühnenwand in Form eines Schemas fort, das an Gilles Deleuzes und Félix Guattaris Rhizomtheorie erinnert. Die Welt ist ein Wurzelgeflecht, alles hängt mit allem zusammen, scheinbar arbiträre Theoreme – Liebe, Himbeeren, Zebrastreifen, Museum für moderne Kunst – sind durch Linien untrennbar miteinander verbunden.
Abgesehen vom Dialog zwischen dem Mann und der Frau strukturieren kleine Ereignisse das im besten Sinne anti- und darum natürlich postdramatische Fortkommen. Einmal wirbeln Federn oder Staub von der Decke, so genau kann man das von der letzten Sitzreihe aus nicht erkennen. Die Beiden heben den Kopf, der Mann filmt das unwirkliche Gestöber mit seinem Smartphone, wie man das eben so macht, wenn man der Theatralität des Moments nicht trauen mag. Ein anderes Mal zappt er sich mit der Wundermaschine in seiner Hand durch seine Playlist: Air, Tom Jones, Michael Jackson, Lana del Ray, „Sunglasses at night.” Die Klassiker der vergangenen Jahre, über Lautsprecher in respektabler Lautstärke in den Zuschauerraum hineingewummert und immer genauso lange angespielt, um sie wiederzuerkennen. Bei „What’s your flavour“ nicken beide mit dem Kopf.
Das Setting wirkt in seiner sterilen Aufgeräumtheit verstörend: Ein hermetischer Kosmos, existentialistisch und surreal wie ein imaginärer Raum bei Sartre, mit der Außenwelt lediglich durch eine Tür in der Wand verbunden. Wer sie öffnet, dem scheint von draußen grünes Licht ins Gesicht und Geräusche – des Waldes? des Dschungels? – erklingen. Was für eine Art von Welt jenseits dieses White Cubes wartet, wissen vielleicht nicht einmal diese seltsamen Figuren mit den Motorradhelmen. Einmal traut sich der Mann hinaus, als er zurückkommt, trägt er einen Hoodie, auf den eine Art Baum gedruckt ist. Seine Stimme klingt jetzt nicht mehr wie eine Comicfigur, sondern wie die eines Monsters, hallend und grotesk tief. Er spricht von der Natur, die dem Menschen stets überlegen sei und wahrscheinlich bedeutet diese für ihn eine Art Heilmittel, das ihn und uns von der kranken Gegenwart heilen könnte; ähnlich Thoreau, der sich in seiner Hütte verkroch. Walden reloaded, wenn man so will.
Man ist versucht zu sagen, es käme kein wirklicher Austausch zustande, jeder kranke an der kollektiven Vereinzelung – schließlich können der Mann und die Frau einander nicht in die Augen schauen, sondern immer nur in die spiegelnde Fläche des Helmvisiers ihres Gegenübers. Aber das stimmt so nicht. Statt kühler Entfremdung herrscht Anteilnahme: Die Klage des Mannes, niemand verstehe seine Probleme, unterbricht die Frau mit den Worten: „Doch, ich!“ Statt sich von einer verkorksten Physis leiten zu lassen, schenkt der Mann nach seiner Erzählung vom besonders delikaten Filetstück des Koberinds der Frau eine beinahe zärtliche Rückenmassage. Love is in the air, aber der Ventilator bläst sie davon.
Am Ende legen der Mann und die Frau ihre Helme ab, breiten eine Plastikfolie über die nun stummen Ventilatoren (die sonst gewiss im Wind tanzen würde wie die Plastiktüte in „American Beauty“) und kleben den Boden mit einer Filzrolle ab. Dann fangen sie an, die weiße Wand schwarz zu streichen. Sie hören nicht damit auf, die Zuschauer müssen selbst entscheiden, wie lange sie der sukzessiven Auslöschung des weißen Grundes zusehen wollen.
Es ist wie in den Momenten des Stücks, in denen das Neonlicht für einen Sekundenbruchteil aussetzt, was wirkt wie ein Wimpernschlag und der dauert, das wissen wir nun, dreihundert Millisekunden. Noch während man grübelt, ob man selbst geblinzelt hat oder tatsächlich etwas geschehen ist, fragt der Mann die Frau oder umgekehrt:
– „Hast Du was gesagt?“
– „Nein.“
Dann sprechen sie über andere Dinge.
Was war die Postmoderne? Wenn die Gegenwart eine blinkende Cursortaste ist, wenn kein Moment wahrhaftiger ist als der Nächste, dann genügt es, die DELETE-Taste zu drücken und alles fängt von vorne an.