Peter Licht? Das ist doch der Typ, der sein Gesicht so gut versteckt. Der den Bachmann-Publikums-Preis gewonnen hat und ziemlich gute Musik macht und ziemlich gute Bücher schreibt. In guter Erinnerung geblieben ist auch sein “Geiziger” am Berliner Maxim Gorki Theater.
Der Typ, der jetzt dreißig Zentimeter von mir entfernt sitzt und mich sekundenlang fixiert als wären wir gerade Kaffee trinken und er erzählte mir dabei seine Lebensgeschichte oder einen Teil davon, das könnte auf jeden Fall Peter Licht sein. So wie er sich reinsteigert, schon reingesteigert hat, als die Gruppe von etwa fünfundzwanzig Schauspielhaus-Besuchern in den Raum geführt wurde, kaum größer als ein Wohnzimmer. Drinnen hört man von Zeit zu Zeit das Rauschen der Straßenbahnen (die hier passenderweise Bim heißen) und Gesprächsfetzen von vorbeigehenden Passanten und oft ist nicht klar, ob die leise Musik aus dem Theaterraum selbst oder der angrenzenden Bar kommt.
Er, der Schauspieler dieses Ein-Personen-Stückes, sitzt auf einer umgedrehten Bierkiste und wartet auf Zuhörer, denen er also seine “Geschichte seiner Einschätzung am Anfang des dritten Jahrtausends” erzählen kann. Erstmal müssen sich die Leute auf den umstehenden Kisten verteilen und sich damit arrangieren, dass das Bein des Nebensitzers eventuell das Eigene berührt. Das Bühnenbild, wenn man überhaupt von einer Bühne sprechen kann, besteht aus übereinander gestapelten Bier-und anderen Kisten, deren Logos nachlässig mit Klebeband bedeckt wurden. Ziemlich viele Flaschen in den Kisten, die niemand weggebracht hat und das ist auch meine Einschätzung des Normalzustandes in jeder Wohngemeinschaft. Dass er, der Schauspieler, schon in diesem Moment in einem Zustand äußerter innerer Unruhe ist, sieht man: seine Stirn ist nass und die Schweißflecken unter seinen Achseln beachtlich.
“Es ging mir gut” – so fängt er an und was in der folgenden Stunde passiert, ist ein atemloser, sich permanent steigernder Monolog von einer solchen Intensität, wie man ihn – und ich glaube hier aus der Perspektive einer passionierten Theatergängerin zu sprechen – lange nicht gesehen hat. Die Geschichte geht in etwa so: Er, der Schauspieler, berichtet von einer vergangenen Zeit seines Lebens, die anfangs als angenehm zu verstehen ist, mit viel Sonne, mit genug Geld und so viel mehr, dass er sich ab und an etwas leisten kann und einer Freundin, mit der er auf Frühlingswiesen liegt und immer scheint die Sonne. Allermeistens. Ab und zu. Eigentlich nicht ganz so oft. “Frank und frei” eigentlich gar nicht; nur wenn der Monsun nachlässt, bricht ein einzelner Strahl durch die dunklen Wolken und das ist der schlimmste Moment, weil er den Erzählenden daran erinnert, dass es eine Sonne gibt. Auf diese Weise wird Stück für Stück das Gesagte revidiert, ad absurdum geführt, bis man weiß: Es ging ihm nicht gut. Das Sofa, zu Beginn als “das Neue, so gut wie Neue, nicht direkt vom Händler Kommende, aber beinahe Unbenutzte” beschrieben, entpuppt sich als völlig unbrauchbar, denn die austretenden Sprungfedern ritzen beim Liegen den Rücken auf. Dann explodiert das Sofa und plötzlich die ganze Wohnung und das billige Geschirr klebt an der Wand und die aus den Wasserleitungen austretenden Wassermassen reißen alles mit sich. Seine Freundin und er schauen sich an und ihm ist, als ob er sie überhaupt nicht kenne und es ist klar, dass hier nicht nur das überdimensionale Loch im Fußboden einen bedenklichen (seelischen) Zustand assoziiert.
In einem Nebensatz gesteht er, der Schauspieler, denn auch seine Probleme mit dem “Themenkomplex Liebe”.
Unterbrochen wird dieser Redefluss, Redeschwall nur von einer Gesangseinlage mit Minikeyboard und mehrmaligem Verlassen des Raumes seiten des Schauspielers. Dessen Leistung verdient zweifellos höchsten Respekt, allein schon wegen des vielschichtigen, scheinbar ohne Interpunktion verfassten Textes der Vorlage. Man nimmt ihm die Geschichte ab. Dazu trägt natürlich nicht zuletzt die bereits erwähnte, beinahe unangenehme Nähe zwischen Darsteller und Publikum und die extreme Raumsituation bei, die zum Schluss noch mal ein Lächeln auf mein Gesicht zaubert als er, der Schauspieler, während des Schlussapplauses mangels Vorhang auf die Straße hinaus geht und wieder hereinkommt.
In den letzten Minuten kehrt dann Ruhe ein. Die Rede ist jetzt von einem Frühstück mit Freundin und Roiboschtee und weichgekochten Eiern. Seine, des Schauspielers, Einschätzung des vor ihm liegenden Arbeitstages ist bescheiden, vielleicht wird er einen Erfolg verbuchen können, vielleicht auch nicht, und auf dem Rückweg müssen noch ein paar Kleinigkeiten besorgt werden. Vielleicht liegt hierin der Schlüssel: snstelle der totalen Selbstüberschätzung ein wenig Bescheidenheit.
Trotz der teilweise stark überzogenen Anhäufung von Metaphern, siehe die mehrmals täglich explodierende Wohnung, fühlt man mit, denn es könnte ja auch die eigene Einschätzung des ist-so oder war-so Zustandes sein. Dazu müsste man allerdings die eigene Person in Beziehung setzen können zu Peter Licht und das geht nicht, denn wir wissen nicht, wie er aussieht und das Rätsel um sich selbst betreibt er mit großer Ernsthaftigkeit. In diesem Moment sieht Peter Licht für mich aus wie der Schauspieler Thiemo Strutzenberger. Und als Einschätzung meiner Situation im Rückblick des heutigen Abends kann ich sagen: “Es ging mir gut.”