“Weltwärts, immer!” oder: Nicht für die Uni schreiben wir, sondern fürs Leben

Das kommt davon, wenn man dem aktuellen Vorlesungsverzeichnis nicht genug Aufmerksamkeit schenkt! Als einer von ungefähr vierzigtausend anderen Studenten der Freien Universität Berlin fühlt man sich ja meist relativ unelitär, trotz Elite-Status; die Masse will halt in die Hauptstadt, ob HU, FU oder sonst was ist dann fast egal. Dabei stehen einem als FU-Student ganz großartige Möglichkeiten offen. So kann das doch recht bescheidene Angebot des eigenen Instituts gegen praktisch alles eingetauscht werden. Selbst fachfremdeln mit Juristen oder Philologen in Vorlesungen zum Thema “Materien des Besonderen Verwaltungsrechts” oder “S-Colonial and Postcolonial Literatures II: Coetzee, Postcolonalism and Global Literature” ist möglich. Meist ist es einem, also mir, dann aber doch zu blöd, sich durch hunderte Webisten zu klicken, auf dass einem mal eine Perle vor die digitalen Füße fiele. Bedauerlicherweise habe ich es aber dieser Faulheit zu verdanken, dass ich mich nicht für das Schreibseminar bei Rainald Goetz beworben habe. Oh dear!

Rainald und ich: Eine Liebesgeschichte, wenn auch eine einseitige. Bereits vor einiger Zeit erschien an dieser Stelle eine Art stummes Loblied auf diesen meinen Lieblingsautoren. Da hatte ich gerade “Rave” gelesen und war noch völlig verkatert, aber glücklich von all den sprachlichen Rauschmitteln, von der bewusstseinserweiternden Syntax, vom Techno-Wortlaut und den Satz-Ekstasen. Dann las ich fast alles andere von ihm, “Irre”, “Krieg”, “Dekonspiratione”, “Abfall für Alle” usw. und stand kurz davor, mir ein Herz mit R oder so einen Quatsch tätowieren zu lassen (natürlich nicht! Aber egriffen war ich schon). Dann glaubte ich vor einiger Zeit, Rainald in der Torstraße begegnet zu sein; ja, ich bin mir sicher, er kam mir auf Höhe des Oberholz entgegegen, aber alles ging so schnell und ach! – bevor ich ihn fragen konnte, war er weg.

Dann sah ich mir seine Anfang Mai gehaltenene Vorlesung an der HU auf deren hauseigenem Stream an (Hail World Wide Web!) und war versöhnt, denn zuvor hatte ich mich geärgert: Dass ich von dieser so genannten “Mosse Lecture” wieder mal erst rückwirkend, nämlich beim Perlentaucher auf Spiegel online erfahren hatte. Denn natürlich wäre ich sonst persönlich anwesend gewesen! Im Gegensatz zum durch und durch wissenschaftlichen Diedrich Diederichsen, dem man genauso wenig folgen kann wie den meisten Dozenten, wenn sie mit einer bewundernswerten Sturheit ihre Textungetüme runterlesen, ohne auch nur ansatzweise mit ihrem Publikum zu interagieren – im Gegensatz zu jenem war es die reinste Freude, wenn endlich wieder Rainald Redezeit hatte (denn die war per Eieruhr getaktet), weil man da sah, wie gute Gedanken beim Sprechen verfertigt werden, eingeschlossen der Wirrheit, die solchen Gedanken zu eigen ist (Da fällt mir die treffende Liedzeile der Superband “Die Sterne” ein, von all meinen gedanken schätz ich am meisten die interessanten, und dass ich mir die wirklich mal tätowieren lassen wollte – aber das gehört jetzt nicht hierher).

Und dann, wieder über den Perlentaucher, der Verweis auf Rainalds Antrittsvorlesung am Peter Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der FU Berlin. Dass er die Heiner Müller-Gastprofessur erhalten hatte, wusste ich und auch wusste ich, dass dazu ein Seminar für einen erlesenen Kreis besonders talentierter? windiger? Studenten gehörte, von dessen Teilnahmebdingungen ich allerdings wie gesagt erst im Nachhinein, das heißt nach Ende der Frist erfuhr. Dankenswerterweise gibt es im digitalen FU-Archiv wenigstens Rainalds Antrittvorlesungfür mich und alle anderen die-FU-Webiste-eher-selten-frequentierenden-Studenten. Zugegeben habe ich sie mir im Bett liegend – kann es eine beruhigendere und zugleich dekadentere Art der Wissenseinverleibung geben? – und größtenteils mit geschlossenen Augen angehört. Mit geschlossenen Augen? Ja, denn zu Rainalds Eigenheiten gehört eine, wohlwollend formuliert, expressive Mimik und Gestik: Ein unkontrolliertes Mit-den-Armen-Rudern, ein fahriges durch-die-Haare-Wühlen, sich-übers-Gesicht-Streichen, den-Kopf-umher-Werfen; bisweilen erinnert das an spastische Zuckungen und passt dementsprechend gut zu dem unerhörten Rede-, ergo Gedankenfluss, der sich über uns Zuhörer ergießt. Anstrengend ist das schon. Fragt sich, ob es zu Rainalds Selbstinszenierung gehört. Ich erinnere mich an einen Professor am Kunsthistorischen Institut in Wien, der damit prahlte, bei seinem Gegenüber den Eindruck erwecken zu können, seine genialen Einfälle entstünden in eben dieser Sekunde und seine rhetorische Brillianz würde perfektioniert durch seine antrainierte Angewohnheit, stets von einem Bein auf das andere zu treten, weil ein in sich ruhender Körper eben nicht mit einem niemals ruhenden Geist konform sei… Oder so ähnlich, jedenfalls weiß ich natürlich nicht, ob Rainald auch beim After-Uni-Bier so enthemmt gestikuliert; ich vermute schon.

Durch keine optischen Reize abgelenkt, folgte ich also gebannt der einstündigen Abhandlung zum Thema “Leben und Schreiben. Der Existenzauftrag der Schrift.” Ich erfuhr, dass Rainald auch mal Theaterkritiker war, zumindest angehender, vom Boulevardblatt-Redakteur zur Berichterstattung einer stumpfen Boulevardtheaterpremiere verdonnert, zu der es gleichwohl nie kam, weil Rainald auch das Theater nicht Leben genug war. Weil man leben müsse, leben! Weil die Arbeit am schlechten Text aufhören müsse, weil das meiste, was wir, also wir Studenten schrieben “Mist” sei: “Vor allem die eigenen Texte: Fast immer Mist! Warum? Ich weiß es nicht!“ Er forderte junge Leute auf, die Redaktionen zu stürmen, sich den Tages- und Wochenzeitungen aufzudrängen, weil gerade da neue Stimmen gebraucht würden. Er sprach von seinem Dämon, einem Inneren, der nie mehr schreiben wolle, nur im Bett liegen, lesen, tot sein: “Ich kenne ihn nicht, ich jage ihn mit meiner Intellektualität… Eine Lebensvernichtungsgalaxie pulsiert in mir!” In mir auch, möchte man rufen und es fühlt sich an wie den Bravo-Starschnitt-zusammenkleben oder Panini-Bildchen-sammeln. Zwischendurch fiel sogar der Name eines weiteren Sterns an meinem Autorenhimmel: Moritz von Uslar, schönster Schreibgott vor dem Herrn, dem ich sogar mal die Hand schütteln durfte und daraufhin in einem tranceartigen Zustand sofort sein Buch “Deutschboden” kaufte. Moritz von Uslar nämlich hatte wohl kürzlich den Fontane-Preis erhalten, noch eine Information, die meinen Informationsradius leider verfehlt hatte. Wichtiger als alles andere aber war Rainald, dass wir den verdammten Schreibtisch verlassen und raus gehen, “weltwärts, immer”, weil wir nur da unseren Schreibstoff finden können. Zum Schluss trug er seinen zukünftigen Studenten (also nicht mir) noch zwei Hausaufgaben auf: 1. Drei, vier Sätze zum Thema “Der Ich-Erzähler, selbst Schriftsteller, trifft in einem angesagten Kleiderladen in Berlin-Mitte einen anderen Schriftsteller, dessen Porträt aus der Erzählung dieser Begegnung entwickelt wird, frei von Unterton und Oberton, komplett subtextfrei!” (Natürlich ein Hinweis auf Maxim Billers ZEIT-Kolumne, in der Biller von seinem Zusammentreffen mit Christian Kracht bei APC berichtete!) und 2) “Mitbringe zwei Texte, die aktuell in den letzten zwei Tagen ein Leseerlebnis waren, egal woher sie kommen!” In Gedanken “vorformuliere” ich schon mal das Schriftstellerporträt und will schon nach meinem Zeitungsstapel greifen und dem Ideenbuch mit den schönen Wortentdeckungen drin – als mir wieder einfällt, dass das hier nicht der Hörsaal I ist, sondern mein Bett und ich ja gar nicht teilnehmen darf an Rainalds Schreibseminar. Oh dear! Dabei fühlte und fühle ich mich geradezu prädestiniert für einmal die Woche Schreibwerkstatt mit meinem Idol. Ob man wohl auch mal gemeinsam mit dem Seminar zu Realexkursionen im Berliner Nachtleben aufbricht? Ich vermute schon. Ich stelle mir die Seminarteilnehmer als glückliche Studenten vor.

(Habe ich schon erwähnt, dass meine Facebook-Statusmeldungen (“Lecker Gute-Nacht-Grießpudding, hart verdient bei KAISERS an der überlangen Freitagnachtschlange (23.30 Uhr), wo sich der gemeine Friedrichshainer mit Wasabinüssen und H-Milch und das Tourivolk mit Haribo und Wodkamate eindeckt; bis die Frischmilch im Tetrapack aus dem Biosphärenreservat Schorfheide-Chorin (3,8 % Fett) sich in Schwällen über den KAISERS-Boden ergießt.”) manchmal auffallend ähnlich klingen wie Rainalds Übersatz heute morgen um 4 Uhr 11, als ich von den Wiesen zurück kam, wo ich den Tau aufgelesen habe, der Titel seiner “Geschichte der Gegenwart” ist, diesem fünfbändigen Schmuckstück, das natürlich gut sichtbar in meinem Bücherregal platziert ist? Und habe ich schon erwähnt, dass Rainald auf dem Portraitfoto der FU-Webiste genau den gleichen Haarschnitt hat wie ich?)