Was auf der Bühne passiert, ist die eine Sache. Das muss in Eimsbüttel nicht unbedingt weniger qualitativ sein als in Wien, Paris, Berlin (mit einem gesunden Optimismus lebt es sich leichter). Die andere, manchmal weitaus spannendere Sache ist, was davor passiert, im Zuschauerraum. Am Offensichtlichsten mag einem das beim Vergleichen der Garderobe auffallen, wobei auch hier viel zu viele Klischees kursieren. Ich wage zu behaupten, dass manche Leute schon deshalb nicht ins Theater gehen, weil sie glauben, sowieso falsch angezogen zu sein. Dabei war die Hemmschwelle, was schlechte Kleidung betrifft, wahrscheinlich nie tiefer als heute. Auch wenn sich meine Erfahrungen auf Deutschland und auch hier auf einige wenige Spielstätten beschränken, kann ich sagen, dass es Mitmenschen gibt, die im Berliner Ensemble ebenso wenig wie im Staatstheater Stuttgart oder im Thalia-Theater in Albstadt-Tailfingen Hemmungen haben, im, sagen wir mal, Jogginganzug aufzutreten.
Zeit also für eine exemplarische Untersuchung der lokalen Besonderheiten! Der Forschungsgegenstand: Die Festspiele in H. Als weitere Information den Ort betreffend soll hier genügen, zu wissen, dass wir uns zwar in einem so gennanten Ballungsraum befinden, faktisch aber doch in der Provinz. Gespielt wird “Monsieur Chasse oder Wie man Hasen jagt” von Georges Feydeau. Weder Stück noch Autor sind mir in meinem bisherigen Theaterleben je begegnet, unweigerlich frage ich mich: zu recht? Die Geschichte ist schnell erzählt: Léontine wird von ihrem Ehemann, Monsieur Duchotel, betrogen. Jedes Mal wenn dieser vorgibt, zur Jagd zu gehen, erbeutet er weder Hase noch Wildschwein, sondern eine von Léontines Freundinnen. Léontine wiederum hat ebenfalls Lust in fremden Gefielden zu wildern (welch ein Wortspiel!) und der beste Freund ihres Mannes zeigt sich sehr interessiert. Was folgt sind zahlreiche Verwirrungen und Lügengeschichten und am Ende gibt es sogar ein Happy End.
Man kann nicht umhin, die Handlung platt zu nennen. Es ist für jeden was dabei: ein bisschen Romantik, ein bisschen Anarchie, sogar ein bisschen Homo-Erotik und über allem schwebt der latente Reiz des Verbotenen (Ehebruchs). Die Witze sind meistens derb, selten subtil und manchmal auch lustig. Wenn etwa der Ehemann von der angeblichen Jagd zurückkommt mit einem Korb voller Pasteten statt geschossenem Wild. Das liegt auch daran, dass die Schauspieler (ausnahmslos!) wirklich gut sind, vielleicht aber auch deshalb, weil sie sich hier mehr anstrengen müssen und sich Starallüren wie sie Lars Eidinger vorlebt (siehe Interview im ZEIT Magazin) gar nicht erlauben können.
Eine schöne Überleitung zu einer kritischen Selbsthinterfragung. Man läuft natürlich schnell Gefahr in die “Berlin-Falle” zu tappen, also alles mit diesem leicht arroganten Place-to-be-Blick zu sehen und allenfalls milde herablächeln zu können auf die so genannten “Provinztheater.” Fairerweise muss also gesagt werden, dass man gar nicht mal so schlecht unterhalten wurde, hier, bei den Festspielen in H. Und während man an Shakespeare denkt und dessen manchmal genauso hohle dramaturgische Einfälle und dünne Geschichten – und ist er nicht weltberühmt und kennt seinen Namen nicht jeder Bürger selbst der, sagen wir mal, unteren Bildungsschichten? – währendessen fallen einem dann auch die scheinbar lokalen Feinheiten auf, die es so ganz sicher nicht im Stadttheater zu sehen gibt, es ist fast wie ein Theater im Theater: dass man auf Bierbänken sitzt zum Beispiel, an Biertischen und, dass man sich trotz des horrenden Kartenpreises (das ist ja nochmal eine ganz andere Sache…) umdrehen muss, weil man nämlich eventuell mit dem Rücken zur Bühne sitzt. Dass es Laugenbrötchen in Bäckertüten zu kaufen gibt, immer sechs, sieben Stück auf einmal und Brezeln in Plastikfolie eingeschweißt und regionalen Weißwein. Dass man gar nicht im Theater sitzt, sondern in einem vermutlich historischen Burghof mit einer vermutlich tausend Jahre alten Geschichte und dass der Boden so uneben ist, dass die Rezensentin mehrmals beinahe von ihren Plateau-High-Heels herunterfällt.
Dann nimmt das Stück an Fahrt auf und die Stimmung steigt spürbar parallel zum Alkoholpegel der Zuschauer und vereinzelt sind Schreie im Publikum zu hören oder Grunzen oder ein Lachen von der Art, wie wenn man eigentlich beschämt sein sollte, die Situation aber in Wahrheit toll, weil versaut findet, wenn sich etwa eine Schauspielerin an die Brüste greift oder Sätze gesagt werden wie “Treu sein soll man in der Ehe, aber das gilt nur vor dem Priester.” Am Ende dann wie bereits erwähnt, ein Happy End, das keines ist: Mann und Frau gestehen sich gegenseitig ihre Seitensprünge und fallen sich dann in die Arme. Offen bleibt, wie damit in Zukunft umzugehen ist, denn solche außerehelichen Fantasien verschwinden doch eigentlich nicht von selbst…? Egal, die stück-immanente Logik interessiert jetzt keinen mehr.
Überglücklich berichtet eine Frau auf der Container-Toilette: “Ich bin so froh, dass wir uns dieses Stück ausgesucht haben und nicht Faust.” Puh, da muss man erst mal schlucken – aber wie war das noch mit der Stadtmensch-Arroganz? Deshalb: Gelacht habe ich schon.