Den Wienern, so munkelt man, haben sie heute Abend die Spätis gebracht. So steht es im Programm zu “Gast.Freundschaft: Performanceaustausch Wien – Berlin”, einem Projekt der Sophiensaele und des Wiener WUK. Während sich die Berliner Performer in der Partnerstadt wagemutig über die gesetzlichen Ladenöffnungszeiten hinwegsetzen – im Nachbarland eine geradezu anarchistische Geste! – lassen sich die Berliner wie Prinzen und Königinnen mit der Pferdekutsche durch Mitte fahren. Alte Männer mit dicken Hunden und St. Oberholz-Schönlinge können nicht aufhören zu staunen, zücken ihr iPhone, lachen, wollen zusteigen. In der Sophienstraße, Ecke Große Hamburger Straße, kommt uns Harald Martenstein auf dem Fahrrad entgegen – Harald Martenstein! Auf dem Fahrrad! – mitsamt winkender Kinderschar im Fahrradanhänger. Was für ein Revival der schmerzlich vermissten Wiener Gemütlichkeit: Im Pferdestärkentempo die Tortsraße hinauf, wo mir heute zum ersten Mal die sehr hämischen, sehr lustigen “Ouzo and Out”-Plakate ins Auge fallen; gemächlich genug, um mindestens vier neue Restaurants zu entdecken, in denen man bald essen gehen möchte, gleichmäßig genug, um halbwegs leserlich spontane Geistesblitze aufzuschreiben. So langsam, dass die Seele ganz sicher genug Zeit haben wird, nachzukommen.
Noch liegt mir der Apfelkuchen des Kaffeehauses Brandauer im Magen, dabei war gar kein “Schlagobers” dabei. Der wurde mit einer Wiener Melange kredenzt, begleitet von den wirren Ausführungen eines fleischigen, kahlköpfigen Mannes, der sehr viel Raum einnahm auf seinem wuchtigen Kaffeehaussessel und behauptete, israelischer Jude mit Wiener Hauptwohnsitz zu sein. Auf meine Frage hin, warum er Englisch spreche, wo ich doch unter anderem hier sei, um dem ebenfalls schmerzlich vermissten Wiener Akzent zu lauschen, behauptete Yosi Wanunu, sein Deutsch sei so schlecht. Vorgeblich ging es in seinem einstündigen Monolog um Bruno Kreisky, seinerzeit österreichischer Bundeskanzler, von dem die Wenigsten gehört haben werden. Unmöglich, Yosi Wanunus logischen Zick-Zack-Sprüngen hinterherzukommen; um ehrlich zu sein erinnere ich mich nur an einen einzigen Halbsatz: “The art of Strudel.” Ähnlich wird es dem Teilnehmer schräg gegenüber ergangen sein, dem mehrmals die Augen zufielen. Das entging auch dem selbstvergessen vor sich hin redenden Wanunu nicht, was dazu führte, woraufhin er den Dösenden grob anging: “Hey! Don’t fall asleep!” Wobei Yosi Wanunu als Import-Wiener doch der Genügsamkeit zugeneigt sein sollte, finde ich.
Nachdem alle einschließlich mir aus ihrer planlosen Lethargie erwacht sind, führt uns eine Mitarbeiterin der Sophiensaele in das “Gartenhaus” eines magisch-verwucherten Innehofs, das dann aber doch wieder den erwartbaren Fabrik-Charme aller Künstlerresidenzen hat. In dieser Künstlerresidenz lebt Clemens Krauss in einer Doppelexistenz als bildender Künstler und Psychoanalytiker; sagt er zumindest. Seine Wohnung ist ein Loft voller Bücher, antiker Möbel und großformatiger Malerei, darunter ein blutdurchtränktes Oberhemd, das durch seinen übertriebenen Hermann Nitsch-Bezug entweder als ein sehr dreistes Plagiat auffliegt oder aber es handelt sich um einen echten Nitsch, dann ist das natürlich eine kleine Sensation (konnte leider nicht überprüft werden). Clemens Krauss weist darauf hin, dass manche von uns auf einer limitierten Edition von Franz West-Stühlen sitzen – auch schön, vor allem schön zu sehen, wie fix daraufhin mein Nebensitzer seinen Fuß von der Stuhlkante nimmt.
Et alors? Zwölf einander vollkommen fremde Menschen spielen Gruppentherapie. Wohin die Reise geht, bleibt das Geheimnis unseres Analytikers, der natürlich Österreicher ist und natürlich hat man den hint mit Freud verstanden – aber bevor man das doof findet und seine Aversion dem sogenannten “Mitmachtheater” gegenüber bestätigt sieht, reißt einen die sogennante “Gruppendynamik” mit. Als hätte eine externe Autorität die Kontrolle übernommen, breitet man vor diesem wildfremden Menschenknäuel seine Befindlichkeiten aus! Fernab jeglicher thematischer Kohärenz oder dramaturgischer Logik brabbelt jeder drauflos, erzählt von eigenen Therapieerfahrungen, von Lebensentscheidungen und der Liebe zur Neuen Musik. Ich zum Beispiel erzähle, dass ich Heike Makatsch die Faust-Inszenierung am Deutschen Theater vorzeitig verlassen habe sehen, woraufhin der ganze Saal zu tuscheln begann. Zwar kommen keine emotionalen Abartigkeiten ans Licht – und doch schwanke ich eineinhalb Stunden später nassgeschwitzt und auf zittrigen Beinen die Wendeltreppe hinunter.
Meinen flauen Magen beruhige ich mit einer Käsekrainer in der Galerie PANATOM. Zu kaufen gibt es auch Stiegl-Bier und Manner-Schnitten, als akustische Untermalung fungiert ein Retro-Fernsehgerät, auf dem in rasanter Abfolge einzelne Nachrichtensequenzen “Österreich! Österreich!” plärren. Im linken Teil des Raumes stehen zwei Boxen mit Retro-PCs darin und ein Tisch, auf dem die Steckbriefe “prominenter Österreicher” ausliegen. Was für eine charmante Idee: Man wählt einen der Steckbriefe (Michael Haneke, Elfriede Jelinek, männliche und weibliche Vertreter der Wiener B- und C-Prominenz, Maskottchen der lokalen Boulevardszene) und setzt sich mit dem oder der Auserwählten per Chat in Verbindung. Während ich um die Kontaktherstellung mit Hermann Nitsch bitte (der ja so etwas wie mein persönliches Kunst-Maskottchen ist), diskutiert neben mir ein erboster Reporter von Deutschlandradio Kultur mit der Galeriemitarbeiterin, die behauptet, die ersten zehn Minuten Skype-Gespräch mit Peter Handke kosteten 50 €. Ob denn sein Arbeitgeber diese kleine Summe nicht locker machen könne? Ein wenig schadenfroh verbarrikadiere ich mich in der Box. Im Gegensatz zum Reporter “muss” ich “nichts” bezahlen, was natürlich damit zu tun haben könnte, dass ich der Hälfte der Galeriemitarbeitern Honig um den Wiener Mund geschmiert habe sozusagen, nämlich ihre Stadt in den Himmel gelobt (wer wird da nicht heimatrührig?). Sekunden später habe ich unglaublicherweise virtuellen Kontakt mit wienerblut7, einer hoffentlich menschlichen Existenz, die sich als Hermann Nitsch ausgibt. Im Folgenden ein kurzer Auszug unserer angeregten nonverbalen Konversation:
Eva Perla: Was für eine Ehre! Wie schön mit Ihnen zu sprechen, Herr Nitsch. Ich verehre Sie sehr.
wienerblut7: Das freut mich.
Eva Perla: Schön, dass Sie sich den neuen Medien nicht verschließen, Herr Nitsch!
wienerblut7: Ja da bin ich auch dankbar für meine jungen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, die sich sehr um das alles kümmern. (…) Wo kommt Ihre Wienliebe denn her?
Eva Perla: Es gibt viele Gründe! Auch wegen den Mehlspeisen.
wienerblut7: Dann sollten Sie aber beim nächsten Besuch auch mal Innereien kosten. Da entgeht Ihnen sonst was!
Eva Perla: Ach Herr Nitsch! Die Germknödel sind mir lieber als die Grammelknödel. Mögen Sie schweren Rotwein, Herr Nitsch?
wienerblut7: Ja. Aber Blut mag ich nur in meinen Performances.
Blut mag er nur in seinen Performances! Darauf einen “Spritzer.” Auch so ein österreichisches Unding: Von Haus aus recht fader Weißwein wird im Verhältnis 1:1 mit Wasser aufgefüllt; das schmeckt dann in der Regel nach gar nichts mehr (sollte ich mir irren, belehre man mich eines Besseren). Im Gegensatz zu wienerblut7s Innereien-Vorschlag aber eine völlig unproblematische Sache, in der Konsistenz ähnlich fluide wie das Oktoberfest-Bier.
Wo man schon mal angefangen hat mit dem Trinken (es ist ja schließlich Samstagabend), da kommt einem die Abschlussveranstaltung in den Sophiensaelen sehr gelegen. Drei Damen, äußerst adrett hergerichtet mit Dirndl und französischem Zopf, laden ein zur einer Art pornösem Musikantenstadl. Improvisierte Separées laden ein zum “Schmusen” und “Blasen”, überall stehen Schälchen mit potenzsteigernden Kürbiskernen, es gibt phallusförmige Kekse und Lebkuchenherzen mit unzüchtigen Ausdrücken zu kaufen und auf einer Leinwand spielen sie Lederhosenpornos. Wir Gäste sollen auch spielen, “Schieß dem Hermann ins Gesicht” (der Hermann war der Mann von der Gitti, dann ist der Hermann der Gitti fremdgegangen, deswegen hat die Gitti dem Hermann ins Gesicht geschossen, weswegen sie jetzt im Gefängnis sitzt; hier schießen wir aber keinem richtigen Mann ins Gesicht, sondern nur einem Hosenanzug mit Luftballonkopf; wer trifft, kriegt Schnaps), Kartensaugen (wer am Schnellsten saugt, kriegt Schnaps), Luftballon-Balancieren (wer am Längsten balanciert, kriegt Schnaps) und Busen-Memory. Hossa, Hossa! dröhnen die Lautsprecher und durch stickige Luft weht der Satz eines Besuchers zu mir herüber, der seine Begleiterin fragt: “Magst Du so einen Schwanz essen?” Was auch immer gerade in den Wiener Spätis passiert: Hier in Berlin-Mitte fühle ich mich ganz prima unterhalten. Und dabei rauscht mit das Wiener Blut in den Ohren.