Da ist sie wieder: Die K-Frage. Ich stelle mir vor, dass die früher nur von Birkenstock-Nerds gestellt wurde (Nachtrag Sommer 2014: Alle tragen jetzt Birkenstock, ich auch, Birkenstock als Klassifizierung hat ausgedient), die sich ergingen in hitzigen Debatten vor einer Schüssel mit Dinkelmehl-Plätzchen und einer Kanne Grünem Tee. Heute gibt es die “Hedonistische Internationale”, deren Aktionen ein anarchischer Charme innewohnt und gleichzeitig absolut Hipstertauglich ist (man denke nur an die Guttenberg-Tortenaktion im schnieken BoHo-Friedrichshain); und nicht nur ist der Birkenstock der Schuh der Stunde (Nachtrag Sommer 2014: Ja, genau!), sondern grüner Tee ein Lifestyle Produkt – “Lemonaid” etwa, da würden sie staunen, die Alt Hippies. Als aufgeklärter, reflektierter Zeitgenosse muss man sich also mal fragen: Gibt es eine Alternative zu unserem Wirtschaftssystem? Und überhaupt: Wie wollen wir leben? Wer das System kritisieren will, muss es erst mal verstehen und wer es verstehen will, tut gut daran, es sich mal von innen anzuschauen. Unser Weg in die abgründigen Tiefen der postmodernen Gewinnmaximierungsagenten, in die Niederungen der menschlichen Gier, die Schattenseiten des Wohlfahrtstaates führt uns geradewegs in den Tempel des Kapitalismus: zu Primark.
Scharf wacht der bullige Security an der Schleuse zum kommerziellen Thrill. Diebstahl lohnt sich nicht, raten uns gut gemeinte Aufklärungskampagnen, aber nur hier mag man dem uneingeschränkt zustimmen. Mal ehrlich: Wer nimmt das Risiko erwischt zu werden auf sich angesichts solch lächerlicher Preise? Mir fallen wenige Läden ein, mal abgesehen von denen, wo sich Diebstahl wirklich lohnen würde, die von Sicherheitspersonal flankiert werden. Im Niemansland zwischen der ersten und zweiten Automatiktür, wo einem die Lüftung einen Schwall heißer Luft um die von der Kälte geröteten Ohren jagt, warten die gestapelten Einkaufskörbchen darauf, von manikürten Kundenhänden aufgelesen zu werden. Wobei mir Einkaufskörbchen eher wie ein Platzhalter vorkommt. Der Diminutiv ist jedenfalls unangebracht. Wie aber nennt man diese Ungetüme, die, wenn man sie auf den Boden stellt, der durchschnittlichen Primark-Kundin locker bis zur Hüfte reichen? Noch dazu sind sie so konstruiert, dass sie nicht stehen bleiben, sondern allsbald wie müde Plastiksäcke in sich zusammensinken. Seine volle Pracht entfaltet der Primarksack/-korb/-beutel nämlich erst, wenn er randvoll gefüllt ist. Netterweise gibt es ihn auch in der Size Zero-Version: als ebenfalls quadratisches Körbchen, wenn es schnell gehen muss. Unmobil wie man von nun an ist, passiert man die zweite Automatiktür und sofort steigt der Lärmpegel in kaum erträgliche Höhen. Eine diffuse Kakophonie aus Stimmen (weiblich, natürlich: Verzücktes Kreischen, grunzende Konkurrenzlaute, wenn es darum geht, die letzte Medium abzustauben, als warteten nicht Dutzende weitere Mediums im Lager), Registrierkassen-Gebimmel, Kleiderbügel-Geklapper und quietschende Schuhen auf schneenassen Fliesen.
Am Besten, man stellt sich der Herausforderung allein. Wer in Begleitung shoppt, läuft nämlich Gefahr, sich bald in den labyrinthischen Gängen zu verlaufen, im Voraus festgesetzte Treffpunkte nicht zu finden und zu allem Überfluss ist vielleicht das Mobilfunknetz überlastet, weil all die anderen Shopperinnen ebenfalls telefonieren. Hier bei Primark ist jeder Tag ein Schnäppchentag. Umso absurder mutet das “Sale!”-Schild an, das einen fünzigprozentigen Rabatt auf Schmuck und Stirnbänder verkündet. So kommt es, dass ein Armband, das vorher vier Euro gekostet hat, jetzt für zwei zu haben ist.
Hier fruchten selbst klug gedachte Vorsätze nicht mehr, wie auch meine Regel (die überall sonst funktioniert), reduzierte Ware nur dann zu kaufen, wenn ich bereit wäre, dafür auch den ursprünglichen Preis zu bezahlen oder sagen wir, zumindest ein bisschen mehr. Dem schrankenlosen Konsum stellt sich nichts, aber auch gar nichts in den Weg, was dazu führt, dass man gar nicht überlegt, ob man etwas wirklich gerne haben möchte (geschweige denn braucht), sondern einfach: Husch husch ins Körbchen. So wie ich mir auch nicht vorstellen kann, dass die Damen an der Kasse besonders oft von Umtausch-Kundinnen belästigt werden, dafür lohnt sich der Weg nicht. Und so ist es bezeichnend, wenn meine Schwester (die ich natürlich während des Einkaufs gefühlte acht Mal aus den Augen verloren habe) mich am Abend fragt, ob ich das Stirnband, das sie für einen Euro erworben hat, nicht geschenkt haben möchte.
Zwei Dinge sind darüber hinaus erwähnenswert: Die Kassen und die Umkleidekabinen. Die Kassen, weil man hier abgefertigt wird wie beim Bürgeramt. Rote Digitalziffern informieren über die nächste freie Stelle, wo man dankbar endlich sein Geld in den Warenkreislauf einspeist. Auf dem Weg dahin locken noch mal kleine unnütze Dinge wie Abschminktücher, Taschentücher, falsche Wimpern. Prima, um den Bertrag aufzurunden. Immerhin ist eine Einkaufstüte im Minimalpreis einbegriffen. Und die Umkleidekabinen? Dazu kann ich nichts sagen. Weil der Weg dorthin die Mühe nicht lohnt. Bei einem Kleidungsstück, das weniger kostet als mein Mittagessen, bin ich schlichtweg zu faul, mich in die Endlos-Schlange einzureihen.
Hier fletscht das Kapitalismus-Raubtier sein Gebiss. Man ist versucht zu sagen: Wenn in Athen dieser Tage Starbucks-Filialen in Flammen aufgehen, dann doch nur, weil es da wahrscheinlich noch keinen Primark gibt. Denn wenn sich der Zorn des vom System enttäuschten Wutbürgers an etwas abreagieren kann, dann ist Primark die denkbar beste Wahl. Das ist Globalisierung in seiner Vollendung, denn die Trends, die hier, teilweise durchaus gelungen, imitiert werden, waren zuvor auf den Laufstegen von Mailand bis New York zu sehen und natürlich kann man in der Filiale in London dieselben Fummel kaufen wie in Saarbrücken.
Am eigenen Leib lässt sich hier das große WIrtschafts-Einmaleins erfahren, sozusagen. Dabei – und das ist die interessanteste Beobachtung – versucht Primark, anders als etwa H&M, wo man sich neuerdings mit einer “Conscious Collection” die kapitalistische Seele grün wäscht, gar nicht erst so zu tun, als habe man etwas mit Nachhaltigkeit am Hut. Zumindest nicht öffentlichkeitswirksam. Auf seiner Website proklamiert Primark hingegen: Fair is important for us. A fair deal for all. Nur: Wer besucht die schon (Online Shopping bei Primark? Tztz…)? Das Label “Ethical Trading” unter dem, nebenbei bemerkt, ausgesprochen unansprechend gestalteten Schriftzug überzeugt mich jedenfalls nicht. Wer als Endverbraucher fünf Euro für ein T-Shirt bezahlt oder sieben für ein Paar Wedges (und hey, so schlecht sehen sie gar nicht aus!), der fragt besser nicht, welches unterernährte Kind da in welchem Entwicklungsland für gelitten hat. Das ist grausam, aber es ist konsequent. Man kann Primark vieles vorwerfen. Heuchelei gehört nicht dazu.